Vater des Strahlenschutzes

Der schwedische Physiker Rolf Maximilian Sievert (1896–1966)
Christof Goddemeier
Titelbild zum Porträt des Physikers Rolf Maximilian Sievert
Personal der Radiumhemmet-Klinik (links: Rolf Sievert und hinten in der Mitte Gösta Forssell) © Radiumhemmets arkiv, public domain, via Wikimedia Commons
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Die Anwendung von Röntgen- und radioaktiver Strahlung am Menschen ist ohne Strahlenschutz nicht denkbar. Die wichtigsten vorbeugenden Maßnahmen gegen Strahlenschäden sind einfach: Weggehen (das quadratische Abstandsgesetz), Abschirmen, Dosis reduzieren. Als Rolf Sievert 1920 von der Möglichkeit erfuhr, die neue Technik in der Medizin einzusetzen, war das Problem der richtigen, nicht schädlichen Dosierung noch ungelöst.

Mit 24 Jahren trat er eine Stelle in der Stockholmer Strahlenklinik Radiumhemmet an. Er begründete die Forschung zum Strahlenschutz und setzte sich für eine entsprechende Gesetzgebung ein. Beim zweiten Internationalen Kongress für Radiologie 1928 in Stockholm war er wesentlich beteiligt. Hier wurde die erste internationale Strahlenschutzkommission ICRP gegründet (International X-ray and Radium Protection Committee). Als eins von fünf Gründungsmitgliedern gehörte Sievert ihr an, 1956 bis 1962 hatte er den Vorsitz inne. Ihre Vorschläge bezogen sich auf deterministische Strahlenwirkungen. Aus administrativen und strahlenbiologischen Gründen teilt man Strahlenwirkungen in stochastische Wirkungen bei niedrigen Dosen und deterministische Wirkungen bei hohen Dosen ein. Deterministische Strahlenwirkungen treten ab einer gewissen Dosis mit Bestimmtheit ein, sind also nicht vermeidbar. 1950 wurde das ICRP in „International Commission on Radiological Protection“ umbenannt, die Abkürzung blieb bestehen. Heute ist die ICRP das wichtigste internationale Gremium für Strahlenschutz mit Sitz in Ottawa, Kanada. Es setzt sich aus renommierten Strahlenschutzexperten und -expertinnen zusammen und macht Vorschläge in Form wissenschaftlich begründeter Empfehlungen. 1979 legte es für die „Äquivalentdosis“ die SI-(Système international d’unités-)Einheit Sv (Sievert) mit der Maßeinheit J/kg fest. Die Äquivalentdosis misst die biologische Wirkung von Strahlung. Dazu führt sie zur Energiedosis einen Bewertungsfaktor ein, der die Strahlenqualität berücksichtigt. Unabhängig von Strahlenart und -energie zeigen gleich große Äquivalentdosen eine ähnliche Wirkung auf den Menschen an.

„Ueber eine neue Art von Strahlen“

Wilhelm Conrad Röntgen war Professor an der Würzburger Universität, als er am 8. November 1895 zufällig die Röntgenstrahlung oder X-Strahlen (X-rays) entdeckte. Johann W. Hittorf und William Crookes, beide Physiker und Chemiker, hatten zuvor die Röhren entwickelt, die auch Röntgen bei seinen Experimenten verwendete. Crookes sowie später Heinrich Hertz und Philipp Lenard wiesen bereits Röntgenstrahlung durch Schwärzung fotografischer Platten nach, waren sich jedoch über die Bedeutung ihrer Entdeckung offenbar nicht im Klaren. Auch der Physiker Nikola Tesla erzeugte bei Experimenten mit Kathodenstrahlröhren Röntgenstrahlung, publizierte seine Resultate aber nicht.

Die für die Medizin bahnbrechende Entdeckung erfolgte an einem Freitagabend, als sich, wie Röntgen schrieb, „keine dienstbaren Geister mehr im Hause befanden“. Röntgen schickte Strom durch eine Kathodenstrahlröhre und beobachtete, dass ein speziell beschichtetes Papier zu leuchten begann. Dieses Leuchten war auch deutlich zu sehen, nachdem er die Röhre mit dicker schwarzer Pappe umschlossen hatte. „Bald war jeder Zweifel ausgeschlossen. Es kamen ‚Strahlen‘ von der Röhre, welche eine lumineszierende Wirkung auf den Schirm ausübten“, schrieb Röntgen. Noch im gleichen Jahr reichte er seine Arbeit „Ueber eine neue Art von Strahlen“ zur Veröffentlichung ein. 1901 erhielt er für seine Entdeckung den Nobelpreis für Physik.

Kaum eine Nachricht über eine wissenschaftliche Entdeckung verbreitete sich so schnell wie die der Röntgenstrahlen. Bereits Anfang Januar 1896 berichtete „Die Presse“ in Wien darüber, innerhalb weniger Tage erschienen Artikel in britischen und US-amerikanischen Zeitungen. Doch bis zur Anwendung der Strahlung war es ein langer Weg. Die ersten Röntgenröhren stellte man in den Glaswerken von Stützerbach und Gehlberg her (beide in Thüringen gelegen). Dass die neue Technik Gefahren barg, war zu Anfang nicht bekannt. Zudem war die eingesetzte Strahlendosis um ein Vielfaches höher als heute. Etliche der beteiligten Arbeiter erkrankten an Krebs und starben. Auf dem Gehlberger Friedhof erinnert ein Gedenkstein an die Verstorbenen.

Strahlung messen

Rolf Sievert wurde 1896 in Stockholm geboren. Sein Großvater war Vorsitzender des Stadtrates von Zittau, sein Vater Max bereiste Russland und Skandinavien und gründete 1881 in Stockholm die Max Sievert-Gesellschaft, die sich auf den Handel mit Maschinen spezialisierte. Das Unternehmen prosperierte; Max wurde schwedischer Staatsbürger und heiratete Sofia Panchéen; das Paar bekam zwei Kinder. Als Rolf 17 Jahre alt war, starb sein Vater. Er erbte ein beträchtliches Vermögen und studierte zunächst Medizin und Elektrotechnik, beendete beide Studiengänge jedoch nicht. 1915 widmete er sich in Uppsala dem Studium der Mathematik, Meteorologie, Astronomie und Mechanik, das er vier Jahre später abschloss. Ein Jahr hörte er Vorlesungen bei Carl Wilhelm Oseen, dem Direktor des Nobelinstituts für theoretische Physik. Der verstand es, den Stoff verständlich zu vermitteln, und Sievert lernte viel von ihm für seine spätere wissenschaftliche Karriere. In seiner Diplomarbeit beschäftigte er sich mit der Strahlungsintensität eines Radiumpräparates. Sievert kehrte nach Stockholm zurück, arbeitete eine Zeit lang im familiären Unternehmen und setzte nebenbei seine Physikstudien fort. Nach dem Abschluss erhielt er eine erste Anstellung an der Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Im Sommer 1920 besuchte er die USA, um sich einen Überblick über neue Forschungsgebiete der Physik zu verschaffen. Gösta Forssell, Radiologe an der Radiumhemmet-Klinik, war zur gleichen Zeit dort. Die beiden begegneten sich zufällig im Center for Radiological Research in Schenectady, New York, und fanden, dass Radiologen und Physiker zusammenarbeiten sollten. Im New Yorker Memorial Hospital trafen sie Gioacchino Failla, Pionier der Biophysik und Strahlenbiologie, der vor allem die Rolle von Strahlung als Ursache von Krebs und genetischer Mutation erforschte. Neben Sievert war er später eins der fünf Gründungsmitglieder des ICRP. Sievert lernte eine Methode, Radiumstrahlung zu steuern – der Physiker William Duane von der Harvard University hatte sie vorgeschlagen. Nach seiner Rückkehr nach Stockholm begann Sievert an der Radiumhemmet-Klinik, Strahlung zu messen. Er erfasste etwa die räumliche Verteilung der Strahlung verschiedener Radiumverbindungen und berechnete deren Intensität.

Einsatz in Nuklearmedizin und Strahlentherapie

Das radioaktive Radium (auch Radon) wurde 1896 von Marie und Pierre Curie entdeckt. Es ist eins der seltensten natürlich vorkommenden Elemente – damit sind Lebewesen auf der Erde einer geringfügigen radioaktiven Strahlung ausgesetzt. 1905 begann man, Tumoren der Gebärmutter und andere gynäkologische Erkrankungen mit Radium zu behandeln. Als „Alphastrahler“ entfaltet Radium eine biologische Wirkung. Doch weil es schwer zu gewinnen ist, eine lange biologische Halbwertszeit hat und sich als Erdalkalimetall in Knochen ablagert, wird es heute praktisch nicht mehr verwendet.

Chemische Elemente, deren Kerne sich umwandeln, senden radioaktive Strahlung aus. Dabei sagt die Aktivität eines radioaktiven Stoffes wenig über seine biologische oder medizinische Wirksamkeit aus, denn die Aktivität misst lediglich die Zerfallsprozesse im jeweiligen Atomkern. Die bei der Kernumwandlung entstehenden verschiedenen Strahlenarten hinterlassen in lebenden Organismen unterschiedliche Spuren aus Ionen. Alpha-Strahlen sind positiv geladene Helium-Kerne mit sehr kurzer Reichweite. Außerhalb des menschlichen Körpers sind sie weitgehend ungefährlich, doch im Kontakt mit menschlichem Gewebe entfalten sie auf ihrem kurzen Weg eine hohe Ionisationsrate. Ihre ionisierende Wirkung beruht darauf, dass sie Elektronen aus Atomen oder Molekülen entfernen können und positive geladene Ionen zurücklassen. Diese reagieren mit Enzymen und DNA und inaktivieren oder beschädigen sie. Je höher die Ionisationsrate, desto komplexer sind die Schäden an der DNA und desto schwerer sind sie zu reparieren. Beta-Strahlen haben eine deutlich geringere ionisierende Wirkung, vor allem dann, wenn sie noch schnell und energiereich sind. Entsprechend gering ist ihre Reichweite, besonders in Wasser und biologischem Gewebe. Gamma-Strahlung ist kurzwelliges von Atomkernen emittiertes Licht (Photonen) und besteht aus sogenannten Gamma-Quanten. Röntgenstrahlen sind elektromagnetische Wellen. Während Gamma-Strahlung durch Kernreaktionen entsteht, resultieren Röntgenstrahlen aus der Geschwindigkeitsänderung geladener Teilchen. Beide hinterlassen selbst keine ionisierenden Spuren, lösen aber energiereiche Elektronen aus, die Beta-Teilchen entsprechen. Der Bewertungsfaktor für die Berechnung der Äquivalentdosis beträgt demnach für Röntgen-, Beta- und Gamma-Strahlung 1, für Alphastrahlung 20. Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlen als wichtigste Produkte radioaktiver Kernumwandlungen werden mit unterschiedlichen Indikationen in medizinischer Diagnostik und Therapie eingesetzt, etwa in Nuklearmedizin und Strahlentherapie.

Direktor des neuen Instituts für Strahlenphysik

Früh engagierte sich Sievert im Strahlenschutz und forderte, die Strahlenbelastung beruflich exponierter Personen zu begrenzen. Er schlug die Einheit „Curie“ zur Messung der Aktivität eines radioaktiven Präparates (Quanten/Sekunde, heute Becquerel) und die Einheit „Röntgen“ zur Erfassung der Ionisation (Ionendosis) vor (Ladung/Luftmasse, heute Coulomb/Kilogramm). Ab 1924 forschte Sievert gemeinsam mit Forssell an der Radiumhemmet-Klinik. Forssell hatte die Klinik mit anderen gegründet. Sie verfügte über 16 Betten, einen Röntgenapparat und ein Radiumgerät. Sievert schenkte der Klinik ein Physiklabor und spendete beträchtliche Summen für die Anschaffung von Geräten und für Unterhaltskosten. 1925 begann eine mobile Abteilung des Labors, mit tragbaren Dosimetern Spannung und Strom von Röntgenröhren zu messen. Zudem unterstützte sie andere schwedische Krankenhäuser und Kliniken in Nordeuropa beim Umgang mit Radium und der Strahlenmessung. 1926 entwickelte Sievert die „Sievert-Kammer“ zur Messung der Dosisleistung durch ionisierende Strahlen. In den folgenden Jahren baute er einen Filter sowie Apparate zur besseren Dosierung der Strahlung bei der Tumorbehandlung (etwa den Thoraeus-Filter). Seine Dissertation schrieb er 1932 über die „Messung von Röntgen-, Radium und Ultrastrahlung“ und deren Anwendbarkeit in Physik und Medizin. Nach seiner Promotion wurde er Assistenzprofessor an der Stockholmer Universität. 1938 schloss sich die Radiumhemmet-Klinik dem Karolinska-Universitätskrankenhaus an. Sievert wurde Direktor des neuen Instituts für Strahlenphysik und Universitätsprofessor.

Italien etablierte 1925 die weltweit erste Strahlenschutzverordnung, Schweden folgte 1941. Sievert war daran maßgeblich beteiligt. Auch Frankreich und Deutschland schlossen sich an. Das „United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation“ (UNSCEAR) beschäftigt sich mit den Auswirkungen atomarer Technologie und der Radioaktivität. 1958 bis 1960 hatte Sievert den Vorsitz inne. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. 1966 starb er in Stockholm an den Folgen einer Magenoperation.


Literatur

1. Harten HU: Physik für Mediziner. Berlin: Springer-Verlag, 7. Aufl. 1995.

2. Krieger H: Grundlagen der Strahlenphysik und des Strahlenschutzes. Wiesbaden: Vieweg und Teubner Verlag, 3. Aufl. 2009.

3. Sekiya M, Yamasaki M: Rolf Maximilian Sievert (1896–1966): father of radiation protection. In: Radiol Phys Technol (2016) 9: 1–5.

4. Wikipedia – Die freie Enzyklopädie: Rolf Sievert (last accessed on 3 April 2023).

 

Entnommen aus MT im Dialog 6/2023

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