„Erkenntnis ist mir wichtiger als Macht“

Der Arzt, Krebsforscher und Nobelpreisträger Harald zur Hausen (1936–2023)
Christof Goddemeier
Porträt des Arztes, Krebsforschers und Nobelpreisträgers Harald zur Hausen (1936–2023)
Prof. Harald zur Hausen, ehemaliger DKFZ-Vorstandsvorsitzender und Nobelpreisträger für Medizin © Tobias Schwerdt/DKFZ
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Der 6. Oktober 2008 war ein Montag. Harald zur Hausen arbeitete im Gebäude der Angewandten Tumorvirologie an einem Text für das „International Journal of Cancer“, als gegen 9.45 Uhr das Telefon klingelte. „Ich habe den Hörer abgenommen und hörte eine Stimme mit schwedischem Akzent, die mir zum Nobelpreis gratuliert“, erinnerte sich zur Hausen.

Dann „war der Teufel los“. Auch Otmar Wiestler, damals Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), war von der Nachricht überrascht. „Nein, wir haben wirklich nicht damit gerechnet“, sagte er, der die Nachricht in Berlin erhielt: „Es war mir klar, das ist der Höhepunkt des Jahres.“ Dass der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin eine Forscherkarriere krönt wie kein anderer, ist unbestritten. Aber warum hatte man im DKFZ eigentlich nicht damit gerechnet? Seit 1975 wurde zur Hausen für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet. Seine Entdeckung, dass humane Papillomviren (HPV) Gebärmutterhalskrebs (Zervixkarzinome) verursachen, war ein Meilenstein in der Krebsforschung und -therapie. Wiestler selbst hielt zur Hausens Lebenswerk für herausragend: Die Entwicklung von einer mutigen Hypothese über die jahrelange Suche nach Belegen bis zu einem Impfstoff gegen den Gebärmutterhalskrebs bezeichnete er als etwas „ganz, ganz Besonderes. (…) Es ist eine wunderbare Auszeichnung für Harald zur Hausen. Und es ist auch eine wunderbare Auszeichnung für das DKFZ. Der Preis adelt uns alle.“ Die andere Hälfte des Preises erhielten die französischen Virologen Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi für die Entdeckung des AIDS-verursachenden HI-Virus.

Harald zur Hausen wurde 1936 als Jüngster von vier Geschwistern in Gelsenkirchen geboren. Der Vater gelangte während des Ersten Weltkriegs mit der Baltischen Landwehr nach Lettland und lernte dort seine Frau kennen. Wegen des Zweiten Weltkriegs endete zur Hausens Grundschulzeit rasch, denn die Schule wurde geschlossen. „Uns Kinder hat das nicht sonderlich gestört“, kommentierte er. Nach dem Krieg durfte er direkt in die vierte Klasse gehen. Auf dem Gymnasium lief es „im durchschnittlichen Bereich“. Doch seine Naturbegeisterung beschrieb er als überdurchschnittlich. Neben den Naturwissenschaften interessierten ihn Literatur und Philosophie. Religion und Naturwissenschaften erlebte er als Widerspruch und rieb sich daran. Als „zentrale und brennende Frage“ stand ihm eine mögliche mechanistische Erklärung für Lebensvorgänge vor Augen. Das Buch „Genom und Glaube“ schrieb er zwei Jahre vor seiner Verabschiedung als Vorstandsvorsitzender des DKFZ. Darin führen „die Ergebnisse der Genomforschung und der molekularen Biologie (...) – konsequent durchdacht – zwangsläufig zu einer Art von dynamischem Rationalismus (Hervorhebung durch H. z. H.). Das Verständnis unserer Evolution und die zunehmende Einsicht unserer Einbindung in gegenwärtige Evolutionsprozesse lassen uns unsere Rolle auf der Erde neu definieren, als hochspezialisierte Glieder einer Lebenskette, die (…) sich eine neue Dimension eröffnet haben, die Dimension des Denkens (...).“ Zum Schluss plädiert er dafür, „wo immer möglich“ Glauben durch Wissen, „die geistige Statik durch die Dynamik, die uns die Evolution vorgibt“, zu ersetzen: „Natürlich wissen wir nicht, ob uns eine solche Rationalität die Zukunft sichert, aber haben wir Alternativen?“

Prägender Einfluss des Ehepaars Henle

Nach dem Abitur studierte zur Hausen sieben Semester Biologie und Medizin, dann brach er das Biologiestudium ab. Dies auch deshalb, weil er den Unterricht an den Universitäten damals „einfach schlecht“ fand: Molekularbiologie sei kaum gelehrt worden, obwohl die Disziplin zu dieser Zeit bereits eine Rolle zu spielen begann. Eine erste Doktorarbeit im Tropeninstitut in Hamburg beendete er wieder, weil er sie vor allem als Fleißarbeit empfand, und wechselte an das mikrobiologische Institut in Düsseldorf. In seiner Promotion fand er, dass bestimmte Bohnerwachse Tuberkelbakterien abtöten, wenn sie ultraviolettem Licht ausgesetzt werden. Nach zwei Jahren in verschiedenen Klinken erhielt zur Hausen die ärztliche Approbation. Doch: „In meinem Herzen wollte ich stets immer nur wissenschaftlich arbeiten.“ Dabei war der Beginn im Düsseldorfer mikrobiologischen Institut zunächst so ernüchternd, dass er entschlossen war, in die Klinik zurückzukehren. Nur langsam fand er zu seiner Freude an der Forschung zurück. Die Jahre zwischen 1966 und ’69 waren für zur Hausen von entscheidender Bedeutung: Beim deutschstämmigen Forscherehepaar Gertrude und Werner Henle im Children’s Hospital of Philadelphia, USA, lernte er sein wissenschaftliches Handwerkszeug und kam zum ersten Mal mit dem Thema „Viren und Krebs“ in Berührung, das ihn fortan nicht mehr loslassen sollte. Die Henles hatten Anfang der 1960er-Jahre gezeigt, dass zwischen dem Epstein-Barr-Virus und dem in Afrika häufigen Burkitt-Lymphom ein Zusammenhang besteht. Nach Stationen in Würzburg, wo er sich habilitierte, Erlangen-Nürnberg und Freiburg übernahm zur Hausen 1983 die Leitung des DKFZ, die er 20 Jahre lang innehatte. In diesen Jahren entwickelte sich das DKFZ zum weltweit anerkannten Forschungszentrum.

Wissenschaftliche Welt blieb skeptisch

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war bekannt, dass Warzen bei Hunden und Rindern durch Infektionen verursacht werden. 1907 zeigte Guiseppe Ciuffo, dass dies auch bei Menschen der Fall ist. 1933 beschrieb Richard Shope eine Papillomatose bei Wildkaninchen, aus der nach mehreren Monaten häufig Plattenepithelkarzinome entstanden. Etwa zur gleichen Zeit belegte Peyton Rous die karzinogene Wirkung dieser Viren und zeigte zudem einen synergistischen Effekt mit chemischen krebserzeugenden Substanzen. 1949 wurden Papillomviren erstmals elektronenmikroskopisch dargestellt und 1963 war klar, dass es sich dabei um ein doppelstrangiges DNA-Ringmolekül aus 7.800 Basenpaaren handelt. Hier setzte zur Hausen mit seiner Forschung an. Anfang der 1970er-Jahre isolierte er Papillomvirus-Genom und fand, dass sich das Genom aus Hand- und Fußwarzen von dem aus Warzen des Genitales unterschied. Hand- und Fußwarzen sind immer harmlos, doch aus Genitalwarzen kann in seltenen Fällen Krebs entstehen. Bestimmte Papillomvirus-Typen befallen besonders den Gebärmutterhals. Sollten sie in der Lage sein, Gebärmutterhalskrebs zu verursachen? Die meisten dieser Virustypen waren harmlos. Es galt also, die gefährlichen Typen zu identifizieren. Erst mit moderner Gentechnik gelang es, das Genom von Papillomviren in Proben von Zervixkarzinomen zu entdecken, die man betroffenen Frauen operativ entfernt hatte. Zwischen 1982 und ’84 isolierte zur Hausens Arbeitsgruppe in Freiburg das Erbgut der Papillomvirus-Typen HPV16 und HPV18, 1995 wurden sie von der „International Agency for Research on Cancer“ als Humankanzerogene klassifiziert. Sie rufen etwa 70 Prozent aller Gebärmutterhalstumoren sowie deren Vorstufen hervor. Doch die wissenschaftliche Welt außerhalb Freiburgs blieb skeptisch. Lutz Gissmann, damals Mitarbeiter zur Hausens, heute Professor am DKFZ, wurde Mitte der 1980er-Jahre bei einem Kongress der HPV-Forscher in Schweden regelrecht zerpflückt: „Es wurde uns einfach nicht geglaubt“, erinnerte sich Gissmann. Die Freiburger verschickten Proben in 300 Labore der Welt, damit die Kollegen ihre Untersuchungen nachvollziehen konnten. Alle kamen zu den gleichen Ergebnissen. Daraufhin legte sich der Widerstand.

Impfung gegen Krebs

Doch wie lösen Papillomviren Krebs am Gebärmutterhals aus? Zur Hausens Arbeitsgruppe, hier die Biologin Elisabeth Schwarz, isolierte die viralen Onkogene E6 und E7. Diese interagieren mit den Tumorsuppressorproteinen p53 und pR6 – betroffene Zellen vermehren sich unkontrolliert und auf Kosten gesunder Zellen. Mit diesem Mechanismus konnte man auch erklären, dass infizierte Zellen sich häufig erst Jahrzehnte später in Krebszellen transformieren. Zudem verstärken Virusinfektionen die Wirkung chemischer Onkogene synergistisch. Bei diesen Erkenntnissen lag schließlich eine Idee nahe: Wenn Viren Zervixkarzinome verursachen, könnte man doch eine Impfung gegen diese Krebsform entwickeln! Doch alle Versuche, aufseiten der Industrie Partner für die Entwicklung eines Impfstoffs zu finden, schlugen fehl. „(...) der Gedanke, gegen Krebs zu impfen, war wohl einfach noch zu weit weg“, resümierte zur Hausen. Anfang der 1990er-Jahre produzierten Gissmann, Matthias Dürst und US-amerikanische Wissenschaftler ein Protein der Viruskapsel. Diese Bausteine fügen sich zu virusähnlichen Partikeln zusammen, enthalten aber kein virales Genom und sind deshalb nicht infektiös. Der Grundstein für die Impfung war gelegt. Seit 2006 ist der weltweit erste Impfstoff zugelassen, der gezielt gegen eine Krebsart entwickelt wurde. In mehreren Studien ließ sich belegen, dass er zuverlässig gegen eine Infektion mit den HPV-Typen 16 und 18 sowie vor den Vorstufen des Zervixkarzinoms schützen kann. Zur Hausen war „zutiefst überzeugt, dass infektiöse Ereignisse bei der Krebsentstehung eine sehr viel größere Rolle spielen, als bislang angenommen. Und es würde mich freuen, wenn ich junge Forscher dazu anregen könnte, diese Spur weiter zu verfolgen.“

„Ich bin ein westfälischer Dickkopf“

Neben seiner wissenschaftlichen Expertise besaß zur Hausen die Fähigkeit, „Wissenschaftsstrukturen und wissenschaftliche Entwicklungen vorzudenken und zu verändern“, sagte Hans-Georg Kräusslich, Direktor der Virologie in Heidelberg, über ihn. In den 1990er-Jahren engagierte er sich etwa für „translationale Krebsforschung“ und brachte Klinische Kooperationseinheiten auf den Weg. Dabei leitet ein Arzt oder eine Ärztin eine Forschungseinheit am DKFZ und eine Bettenstation in der Klinik. So ist gewährleistet, dass Ergebnisse der Forschung so schnell wie möglich zu den Patienten gelangen. 2004 wurde in Heidelberg das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) gegründet, wo man die Kooperation zwischen Forschung und Klinik unter einem Dach umsetzt. Wissenschaftlich Arbeitenden gab zur Hausen den etwas ernüchternden Rat: „Im Grunde muss man davon ausgehen, dass sich die meisten Hypothesen, die man aufstellt und an denen man lange feilt und arbeitet, als falsch erweisen. Man muss sie dann korrigieren – und weiterarbeiten.“ Daran hielt er sich selbst und arbeitete bis zuletzt weiter. Dabei interessierte ihn in den letzten Jahren, ob der Konsum von Milch und Rindfleisch mit der Entstehung von Brust- und Darmkrebs zusammenhängen könnte. Ein Mitglied des Nobelpreiskomitees lobte die „große Beharrlichkeit“, mit der zur Hausen seine Forschung über die Jahrzehnte und gegen Widerstände vorangetrieben habe. „Das mit der Beharrlichkeit ist schon wahr“, kommentierte zur Hausen. „Ich bin ein westfälischer Dickkopf.“

Neben dem Nobelpreis erhielt zur Hausen zahlreiche Auszeichnungen, darunter mindestens 30 Ehrendoktorwürden. Aus erster Ehe hatte er drei Söhne. Seit 1993 war er mit der Biologieprofessorin Ethel-Michele de Villiers verheiratet. Am 29. Mai dieses Jahres ist Harald zur Hausen in Heidelberg gestorben. „Mit ihm verlieren wir einen herausragenden Wissenschaftler, der auf dem Gebiet der Tumorvirologie bahnbrechende Leistungen erbracht hat“, würdigte Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des DKFZ, den großen Forscher.

Literatur

1. Berndt C: Undogmatisch und unbeugsam. Der Krebsforscher Harald zur Hausen ist gestorben. In: Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2023.
2. Eberhard-Metzger C, Seltmann S (Hg.: Deutsches Krebsforschungszentrum): Harald zur Hausen – Nobelpreis für Medizin 2008. Online, last accessed on 15 August 2023.
3. Zur Hausen H: Papillomviren als Krebserreger. In: Geburtsh. u. Frauenheilk. 58 (1998), 291–296.
4. Zur Hausen H: Genom und Glaube. Der unsichtbare Käfig. Berlin: Springer Verlag 2002.

 

Entnommen aus MT im Dialog 12/2023

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