Luftrettung mit bemannten Multikoptern?

Machbarkeitsstudie der ADAC Luftrettung
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Testbetrieb des Multikopters
Geplant in 2023: Testbetrieb des Multikopters im Rettungsdienst (Fotomontage) obs/ADAC SE/ADAC Luftrettung
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Luftrettung mit bemannten Multikoptern sei möglich, sinnvoll und verbessere die notfallmedizinische Versorgung der Bevölkerung: Auf diesen Nenner bringt es der ADAC mit seiner weltweit ersten Machbarkeitsstudie über den Einsatz von bemannten Multikoptern im Rettungsdienst.

Die rund 130 Seiten starke Studie war Ende 2018 von der ADAC Luftrettung, gefördert von der gemeinnützigen ADAC Stiftung, auf den Weg gebracht worden. Im Fokus des Forschungsprojektes in Kooperation mit der Firma Volocopter in Bruchsal und den Modellregionen Ansbach-Dinkelsbühl (Bayern) und Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz) stand die Frage: Kann das Rettungsdienstsystem mit dem Einsatz von Multikoptern als schneller Notarztzubringer verbessert und zukunftssicher aufgestellt werden? Der Multikopter soll den Rettungshubschrauber dabei ausdrücklich nicht ersetzen, sondern die schnelle Hilfe aus der Luft ergänzen. Ein Patiententransport ist dabei zunächst nicht vorgesehen.

Bisher Flugtaxis im zivilen Bereich

Multikopter sind neue, senkrechtstartende Luftfahrzeuge mit mehreren elektrisch angetriebenen Rotoren. Bisher wurden die Fluggeräte in erster Linie als Flugtaxis im zivilen Bereich entwickelt. Nach knapp eineinhalb Jahren Forschungsarbeit könne nun aber erstmals ein einsatztaktischer Vorteil von Multikoptern im Rettungsdienst theoretisch belegt werden: Deutliche Verbesserungen für die Notfallversorgung sollen sich laut Studie ab einem Einsatzradius von 25 bis 30 Kilometern ergeben. Die optimale Fluggeschwindigkeit des Multikopters sollte in diesem Fall bei 100 bis 150 km/h, die Mindestreichweite bei rund 150 Kilometern liegen. Technisch möglich wären diese Idealvoraussetzungen wohl in etwa vier Jahren.

Kampf gegen Notarztmangel?

Mit entsprechenden Multikoptern könnten Notärzte nicht nur schneller am Einsatzort sein, sondern auch deutlich mehr Patienten in einem größeren Versorgungsgebiet erreichen. Die Arbeit des Mediziners werde so effektiver und der Multikopter zu einem adäquaten Mittel im Kampf gegen den vielerorts herrschenden Notarztmangel. Das sei für die Macher der Studie die wichtigste Erkenntnis. Auch vor dem Hintergrund, dass sich die Notarzt-Eintreffzeit in den vergangenen 20 Jahren im Bundesdurchschnitt um fast 40 Prozent verschlechtert habe, so die Verantwortlichen.

Positiver Nebeneffekt: Auch der Rettungshubschrauber könne noch effektiver eingesetzt werden, denn er fungiere heute in rund 60 Prozent der Fälle als reiner Notarztzubringer. Er könne stattdessen sein Potenzial als Transportmittel in weiter entfernte (Spezial-)Kliniken ausschöpfen. Auch dies verbessere die Notfallversorgung der Menschen. ###more###

Makro- und Mikroanalyse in Modellregionen

Für die Studie hat das international renommierte Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement der Ludwig-Maximilians-Universität München (INM) in einer Makroanalyse für die Bundesländer Bayern und Rheinland-Pfalz Einsatzpotenziale des Multikopters ermittelt und in einer Mikroanalyse für zwei Modellregionen - auf Basis historischer Leitstellendaten - mehr als 26.000 Notfalleinsätze mit Multikoptern am Computer simuliert: für den Rettungsdienstbereich Ansbach mit dem Luftrettungsstandort Dinkelsbühl in Bayern sowie Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz. Durchgespielt wurden Szenarien mit unterschiedlichen Einsatzradien, Reichweiten und Geschwindigkeiten.

VoloCity des Projektpartners Volocopter

Die technische Machbarkeit wurde anhand eines VoloCity des Projektpartners Volocopter untersucht, da dieser Multikopter eine frühzeitige Marktreife erwarten lasse und mit 18 festverbauten Rotoren eine besonders hohe Ausfallsicherheit aufweise. Sein Vorteil gegenüber einem Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) sei laut Studie auf dem Land größer als in der Stadt. Im Vergleich zu einem Rettungshubschrauber sei der Multikopter leiser und emissionsärmer.

„Die Arbeit der Projektbeteiligten ist sehr beeindruckend. Wir sind heute überzeugt davon, dass Multikopter helfen können, den Rettungsdienst der Zukunft zu prägen und zu verbessern. Die Ergebnisse sind so erfolgversprechend, dass wir mit dem Projekt in den Testbetrieb gehen wollen“, kündigte Frédéric Bruder, Geschäftsführer der gemeinnützigen ADAC Luftrettung, an.

„Der zunehmende Notarztmangel ist eine große Herausforderung für die notfallmedizinische Versorgung der Bevölkerung - insbesondere auf dem Land. Deshalb hat die ADAC Stiftung dieses innovative Forschungsprojekt von Anfang an konzeptionell und finanziell unterstützt. Jetzt blicken wir mit Spannung auf den Praxistest. Denn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie machen deutlich, dass bemannte Multikopter als schnelle Notarztzubringer bereits in naher Zukunft dazu beitragen können, dieses ernste Problem zu lösen“, ergänzte Dr. Andrea David, Vorstand der ADAC Stiftung.

Testbetrieb ab 2023

Der Testbetrieb ist ab 2023 geplant und soll in den bisherigen zwei Modellregionen stattfinden: in Bayern im Rettungsdienstbereich Ansbach an der ADAC Luftrettungsstation in Dinkelsbühl, in Rheinland-Pfalz an einem neuen, reinen Multikopter-Standort in der Region Idar-Oberstein.

Dazu der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz: „Rheinland-Pfalz ist ein ländlich geprägtes Bundesland mit Mittelgebirgen und Tälern. Das bringt auch Herausforderungen für Notarzt und Rettungsdienst mit sich, die innerhalb kurzer zeitlicher Frist beim Patienten sein müssen. Im Durchschnitt sind die Rettungswagen in Rheinland-Pfalz schon jetzt deutlich unter der gesetzlichen Frist am Einsatzort. Wir freuen uns aber auch, dass mit den in Rheinland-Pfalz landesweit vorliegenden statistischen Daten auch die genauere Betrachtung neuer innovativer Ideen möglich ist. Bemannte Multikopter im Rettungsdienst klingen aktuell noch nach Zukunftsmusik und trotzdem wäre es fahrlässig, solche Ideen wie die der ADAC Luftrettung im Sinne der Patientinnen und Patienten nicht weiterzuverfolgen.“

Weitere technische Probeflüge

Bis das Pilotprojekt startet, finden an nichtöffentlichen Forschungsstandorten der Firma Volocopter weitere technische Probeflüge statt, um die bemannten Fluggeräte für die besonderen Bedingungen im Rettungsdienst aus der Luft zu testen - dazu gehören etwa Starts und Landungen in Hanglagen, bei schlechter Sicht, bei Dunkelheit oder im Winter. Für diese Tests sei die aktuell bestehende Volocopter-Technologie ausreichend. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), mit dem die ADAC Luftrettung bereits seit vielen Jahren im Bereich Forschung und Entwicklung kooperiert.

„Wir sind stolz, mit unserer Volocopter-Technologie einen Beitrag zur Luftrettung zum Wohle der Allgemeinheit leisten zu können. In der engen Zusammenarbeit mit der ADAC Luftrettung ist deutlich geworden, wie fundiert das Expertenwissen im Bereich der Luftrettung und im Betrieb einer großen Helikopterflotte ist. Gleichzeitig zeigt sich, wie weitsichtig und offen für Innovation die Projektteilnehmer sind,“ sagte Florian Reuter, CEO von Volocopter. „Der VoloCity ist der erste Multikopter weltweit, der bereits im Prozess zur kommerziellen Zertifizierung ist, und er könnte gemeinsam mit der ADAC Luftrettung bereits heute Menschenleben retten. Wir stehen am Anfang einer Entwicklung, bei der sich unsere Technologie und damit auch Kennzahlen wie Reichweite und Fluggeschwindigkeit stetig weiterentwickeln werden. Wir freuen uns, der Partner der Wahl für die ADAC Luftrettung bei der Studie, dem anstehenden Testbetrieb, und darüber hinaus, zu sein.“

Besatzung Multikopter

Die Besatzung bestehe aus einem Piloten und einem Notarzt - und nicht wie bei einem klassischen Rettungshubschrauber aus Pilot, Notarzt und Notfallsanitäter (TC HEMS). Da Notfallpatienten auf das sichere und schnelle Eintreffen des Notarztes angewiesen seien, müssten Multikopter im Rettungsdienst, so die Studie, im 24-Stunden-Dienst und auch bei schlechtem Wetter operieren können. Neue Herausforderungen kommen auf die Besatzung zu. Da der Notarzt per Multikopter häufig als erstes Rettungsmittel an der Notfallstelle ist, benötige er eine besondere medizinische Ausstattung. Diese müsse im Vergleich zu einem NEF wegen der begrenzten Nutzlast des Fluggerätes gewichtsoptimiert sein. Der Pilot müsse den Arzt noch mehr als bisher unterstützen und benötige eine notfallmedizinische Zusatzausbildung.

Neben den medizinischen und technischen Voraussetzungen für einen Testbetrieb wurde auch die Wirtschaftlichkeit untersucht. Einen kosteneffizienten Betrieb halten die Macher der Studie für möglich. Die Kosten dafür seien im Vergleich zum allgemein hohen Investitionsbedarf im Gesundheitswesen eher gering.

Untersucht hat die Studie auch die rechtliche Machbarkeit. Unüberwindbare luftfahrtrechtliche oder rettungsdienstliche Hindernisse werden nicht gesehen. Nötige Anpassungen zeigt die Studie auf. Um den Rettungsdienst systemrelevant verbessern zu können, sollten die offenen rechtlichen Fragen frühzeitig geklärt werden, so die Botschaft der Projektleiter in Richtung Politik und Luftfahrtbehörden.

ADAC Luftrettung feiert Jubiläum

Die ADAC Luftrettung feiert in diesem Jahr goldenes Jubiläum. Mit Inbetriebnahme von „Christoph 1“ begann am 1. November 1970 in München-Harlaching die Erfolgsgeschichte der Luftrettung in Deutschland. Mit mehr als 50 Rettungshubschraubern und 37 Stationen ist die gemeinnützige ADAC Luftrettung heute eine der größten Luftrettungsorganisationen Europas. Die ADAC Rettungshubschrauber gehören zum deutschen Rettungsdienstsystem, werden immer über die Notrufnummer 112 bei der Leitstelle angefordert und sind im Notfall für jeden Verunglückten oder Erkrankten zur Stelle. „Gegen die Zeit und für das Leben“ lautet der Leitsatz der ADAC Luftrettung gGmbH. Denn gerade bei schweren Verletzungen oder Erkrankungen gilt: Je schneller der Patient in eine geeignete Klinik transportiert oder vor Ort vom Notarzt versorgt wird, desto besser sind seine Überlebenschancen bzw. seine Rekonvaleszenz. Seit 2017 ist die ADAC Luftrettung ein Tochterunternehmen der ADAC Stiftung.


Quelle: ADAC Luftrettung gGmbH/ots

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