Candidatus Electronema ist Mikrobe des Jahres 2024

Kabelbakterium als lebender Stromleiter
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Mikrobe des Jahres 2024, das Kabelbakterium Candidatus Electronema
Die Mikrobe des Jahres 2024, das Kabelbakterium Candidatus Electronema, 10.000fach vergrößert, bildet „Kabelsalat“. Aufnahme: Pia B. Jensen, Aarhus (CC BY 4.0)
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Schon traditionell wird gegen Ende des Jahres von der VAAM die Mikrobe des Jahres gekürt. Dieses Jahr sind es stromleitende Bakterien.

Die Mikrobe des Jahres weist auf die bedeutsame Rolle der Mikroorganismen für die Ökologie, Gesundheit, Ernährung und Wirtschaft hin. Die Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie (VAAM) wählt sie aus, um auf die Vielfalt der mikrobiologischen Welt aufmerksam zu machen. Dieses Jahr sind es stromleitende Bakterien. Vor zwölf Jahren fanden Forscherinnen und Forscher am Grund von Meeren und Seen mikrobielle Ketten, die Strom über mehrere Zentimeter leiten können. Diese Kabelbakterien (lat. Electronema) stimulieren den Schadstoffabbau und reduzieren die Bildung von Treibhausgasen. Eines Tages können sie möglicherweise als biologisch abbaubare Stromkabel genutzt werden. Die VAAM ernennt mit Electronema erstmals eine Bakterienart zur Mikrobe des Jahres, für deren vollständige Beschreibung die Reinkultur noch fehlt. Kabelbakterien können zwar in der Natur nachgewiesen, aber noch nicht isoliert im Labor vermehrt werden. Ihr wichtigster Vertreter trägt daher den vorläufigen Namen Candidatus Electronema.

Bakterien können Elektronen fließen lassen

Kabelbakterien bilden bis zu fünf Zentimeter lange Ketten aus Zehntausenden von Bakterienzellen. Diese sind durch stromleitende Proteinfasern in ihrer Zellhülle verbunden. Ihre Kettenform ermöglicht dem mehrzelligen „Körper“ der Kabelbakterien eine einzigartige Arbeitsteilung: Während in unserem Körper jede einzelne Zelle „essen“ (Nahrung oxidieren) und „atmen“ (Sauerstoff reduzieren) muss, teilen Kabelbakterien diese lebenserhaltende Redoxreaktion auf. Tausende von Zellen jedes einzelnen Kabels leben demnach im tieferen Teil des Sediments, wo es zwar reichlich Sulfid, aber keinen Sauerstoff gibt - dieser ist Zentimeter entfernt an der Sedimentoberfläche. Dennoch können die Kabelbakterien das Sulfid zu Sulfat oxidieren, indem sie die dabei anfallenden Elektronen über die stromleitenden Fasern auf den Sauerstoff am anderen Ende des Kabels übertragen. Dank ihrer Zentimeter-langen Stromleiter können Kabelbakterien Elektronen vom Ort der Oxidation (im Sediment) zum Sauerstoff (an der Sedimentoberfläche) hin fließen lassen - und damit als einzige Organismen das Sulfid in einer Zone verbrauchen, wo es keinen Sauerstoff gibt: ein großer Vorteil gegenüber konkurrierenden Mikroorganismen.

Bakterien können Schadstoffabbau ankurbeln

Kabelbakterien produzieren laut VAAM im Sediment nicht nur Sulfat, sondern stellen durch ihre Stromleiter eine Art Verlängerungskabel als indirekte Verbindung zum Sauerstoff an der Sedimentoberfläche zur Verfügung. Damit stimulieren sie mikrobielle Aktivitäten, die sonst nur mit Sauerstoff möglich sind, und Populationen, die dort sonst nicht leben könnten. So finden sich Kabelbakterien häufig in Gewässern, die mit Kohlenwasserstoffen belastetet sind – etwa nach Benzin- oder Ölkontamination. Die Aktivität der Kabelbakterien kann den Schadstoffabbau erheblich ankurbeln: Sie steigern den Abbau aromatischer Kohlenwasserstoffe oder organischer Stoffe wie Faulschlamm in den Sedimenten überdüngter Seen. Es gebe bereits Ideen, Kabelbakterien gezielt zur Wiederaufarbeitung kontaminierter Standorte zu nutzen. Beispielsweise lasse sich die Wirkung der Kabelbakterien gezielt durch Elektroden im Sediment stimulieren.

Hilfe bei der Treibhausgasverringerung?

Kabelbakterien könnten auch helfen, Treibhausgase zu verringern. So entsteht in überfluteten Reisfeldern jährlich eine große Menge des klimaschädlichen Methans. Kabelbakterien leben im Wurzelbereich von Reispflanzen und können dort die Methanbildung verringern. Versuche im Gewächshaus zeigen demnach, dass sich nach der Zugabe von Candidatus Electronema zum Boden die Methanemissionen um über 90 Prozent verringern. Die Vermutung: Die Bakterien „zapfen“ die Sauerstoffversorgung der Reiswurzel an. So ermöglichen die Kabelbakterien ein ständiges Recycling von Sulfat im Boden. Dies verhindert die Bildung von Methan. Es gelte nun herauszufinden, wie Kabelbakterien im Reisanbau oder etwa in Mooren gezielt stimuliert werden könnten, um den Methanausstoß zu verringern.

Biologisch abbaubare Stromleiter?

Die Stromleitung in den Proteinfasern der Kabelbakterien ähnelt der eines metallischen Kabels. Damit seien sie für eine auf Biomaterialien basierende Elektronik äußerst interessant. Weltweit werde nur ein Fünftel der jährlich über 50 Millionen Tonnen Elektroschrott recycelt. Biologisch abbaubare Stromleiter könnten deshalb einen wichtigen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten. Die leitfähigen Strukturen der Kabelbakterien wurden bereits patentiert, doch von einer kommerziellen Umsetzung ist die Entwicklung noch weit entfernt. Die spanische Künstlerin Anna Pasco Bolta nutzt die elektrische Leitfähigkeit der Kabelbakterien bereits in ihren Projekten: Mit Electronema-Filamenten verbindet sie Mikrofon und Verstärker für ihre über Kabelbakterien gelesene Gedichte. Mittlerweile sind zwölf Kabelbakterien-Arten beschrieben. Wie Candidatus Electronema können sie noch nicht als Reinkulturen im Labor vermehrt werden, aber dank genauer Genomdaten sind sie sehr gut charakterisiert. Vermutlich über 99 Prozent der Mikroben unserer Welt wurden laut VAAM noch nicht im Labor isoliert und beschrieben.

Quelle: VAAM

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