Was macht das Hirn in Alltagssituationen?

Hirnforschung mit Kino
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Die Magdeburger Forscher Michael Hanke und Jörg Stadler haben 15 junge Leute zu einem Filmbesuch „in der Röhre“ eingeladen.

Michael Hanke von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Jörg Stadler vom Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) Magdeburg haben sich der Idee von „Open Science“ verschrieben. Echte Cineasten verbringen einen Filmabend natürlich lieber entspannt im Kino oder auf dem heimischen Sofa als in einem Magnetresonanztomographen (MRT). Die Magdeburger Forscher Michael Hanke und Jörg Stadler haben dennoch 15 junge Leute zu einem Filmbesuch „in der Röhre“ eingeladen, um mit diesem ungewöhnlichen Experiment während jeder einzelnen Filmszene komplexe Daten über die Hirnaktivität, Blickbewegungen, Puls und Atemfrequenz aufzuzeichnen

Anders als in üblichen psychologischen Experimenten, bei denen die Probanden zumeist nur sehr simple und oft abstrakte Reize präsentiert bekommen, muss das Gehirn hier gleichzeitig Gesehenes und Gehörtes, Gefühle und Affekte verarbeiten, Personen wiedererkennen und Filmschnitte verstehen – also eine komplexe Alltagsleistung. Der Clou dabei: die Wissenschaftler stellten den von ihnen in aufwendigen Messungen erhobenen neurowissenschaftlichen Datensatz offen ins Netz.

„Wir wissen, dass im Alltag viele Prozesse im Gehirn gleichzeitig ablaufen und sich dabei gegenseitig beeinflussen. Eine einzelne Arbeitsgruppe kann einen solchen Datensatz kaum umfassend auswerten. Dafür ist die Bandbreite der Fragestellungen einfach viel zu groß“ sagt Michael Hanke. Die Forscher setzen darauf, internationale Kollegen für ihre Daten zu begeistern und so die wichtige Grundlagenforschung um das menschliche Gehirn schneller voranzubringen. Der komplexe Datensatz kann Antworten auf viele Fragen der Neurowissenschaften zur Funktionsweise des Hirns im Alltag geben. Arbeitsgruppen unterschiedlicher Disziplinen aus den USA, Großbritannien und Australien haben die Daten bereits erfolgreich für ihre Studien verwendet.

"Forrest Gump" in einer Version für Sehbehinderte

Für eine Vorstudie, die aus einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Kooperation im Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience entstand, begannen sie bereits 2013 mit den ersten Untersuchungen. Damals wurden 20 Probanden im MRT untersucht. Während sie in dem Gerät lagen, spielten die Wissenschaftler ihnen die Tonspur des Filmklassikers „Forrest Gump“ in einer Version für Sehbehinderte vor und erfassten dabei über zwei Stunden lang die Hirnaktivitätsmuster der Probanden.

 Im Zentrum der neuen Datenerhebungen, an denen 15 Probanden beteiligt waren, stand diesmal die gleichzeitige Messung von Hirnaktivität und Augenbewegungen sowie weiterer physiologischer Parameter über die gesamte Dauer des Spielfilms, diesmal mit Bild und Ton. Dadurch können Aktivitätszustände des Gehirns zu einer großen Zahl paralleler kognitiver Prozesse erfasst werden. Der erhobene Datensatz spiegelt besser wider, wie das menschliche Gehirn im Alltag arbeitet und nicht, wie es sich in einer einzelnen künstlich-experimentellen Situation verhält

„Die gleichzeitige Messung der Blickbewegung im Tomographen erlaubt uns, nun auch zu untersuchen, welche Aspekte des Films für die einzelne Versuchsperson interessant sind, worauf sie ihr Augenmerk legt und welche Hirnprozesse den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Probanden zugrunde liegen“, erklärt Hanke. Die umfangreichen erweiterten Datensätze der „studyforrest“-Studie stellten Hanke und Stadler nun wiederum als Open Data der internationalen Forschergemeinde zur Verfügung.

Zeitpunkt und Art aller Emotionen

Auch in Lehrveranstaltungen setzt Michael Hanke die Daten ein, um Magdeburger
Psychologiestudenten die Realität von Forschung und Veröffentlichung der Ergebnisse zu vermitteln. Studierende absolvierten Praktika zur wissenschaftlichen Beobachtung, in denen sie bestimmte Facetten des Films untersuchten. Eine Gruppe beschrieb beispielsweise Zeitpunkt und Art aller von den Filmfiguren dargestellten Emotionen und veröffentlichte diese Daten noch während des Semesters in einem eigenen Artikel.

Bis Open Science zur gängigen Praxis wird, ist noch die nötige technische Infrastruktur und die Bereitschaft der Wissenschaftler erforderlich, ihre Daten miteinander zu teilen, um den Fortschritt zu beschleunigen und bessere Schlussfolgerungen aus der Forschung für die Anwendung ziehen zu können. Mittlerweile ist die ursprüngliche Publikation zum „studyforrest“ Projekt eines der meist zitierten Paper der Nature-Zeitschrift „Scientific Data“. Damit zeigen Hanke und Stadler auch: Das Teilen von Daten und wissenschaftlicher Erfolg schließen sich nicht aus.

Literatur:

„A studyforrest extension, simultaneous fMRI and eye gaze recordings during prolonged
natural stimulation“ Scientific Data 3, Article number: 160093 (2016)

„A studyforrest extension, retinotopic mapping and localization of higher visual areas“
Scientific Data 3, Article number: 160092 (2016)



Quelle: idw/Leibniz-Institut für Neurobiologie, 16.11.2016

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