Von Vitalismus, Naturphilosophie und Romantischer Medizin zu Medizinischer Wissenschaft (Teil 2)

Historisches
Heinz Fiedler
Von Vitalismus, Naturphilosophie und Romantischer Medizin zu Medizinischer Wissenschaft (Teil 2)
Liebigs Labor um 1840 © Wilhelm Trautschold (1815 – 1877) – Illustration in: „Bibliothek des allgemeinen und praktischen Wissens“, Band 3, Deutsches Verlagshaus Bong u. Co., Berlin, 1912, Herausgeber Emanuel Müller-Baden (eigener Scan), Gemeinfrei, wikimedia
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Naturwissenschaftliche Medizin: Die stürmische Entwicklung von Mathematik, Physik und Chemie führte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Ablösung von Naturphilosophie und Praxisferne.

Qualitative Beobachtungen wurden infolge der verbesserten Labortechnik durch quantitative Messungen ersetzt und verbessert. Die Interpretation von qualitativen Befunden war allerdings einfacher gewesen, weil das Vorhandensein eines bei Gesunden fehlenden Merkmals (zum Beispiel Albumin im Urin) als krankhaft angesehen werden konnte, ebenso wie bei umgekehrten Beziehungen. Nachteile der qualitativen Proben waren die Unspezifitäten von Farb- und Redox-Reaktionen, wie die bekannten Störfaktoren bei Glukosetests im Urin. Die quantitativen Methoden waren andererseits umständlich und aufwendig und ihr diagnostischer Wert wurde erst allmählich erkannt, da Gesunde und Kranke sich nicht prinzipiell, sondern in ihren quantitativen Werten unterscheiden (F. J. V. Broussais 1772–1838). Zunächst fehlten jedoch Vergleichs- beziehungsweise „Normal“-Werte. Der berühmte Chemiker Jöns Jakob Berzelius (1779–1848) quantifizierte 1809 Urinproben eines einzigen Gesunden. Der Physiologische Chemiker Carl Schmidt („Wasser-Schmidt“) führte 1850 Blut- und Plasma-Analysen an zwei Personen durch, womit er später bei Cholerapatienten die erfassten Elektrolytveränderungen für eine gezielte Therapie verwenden konnte. Alfred Bequerel (1814–1862) errechnete den Mittelwert der Urinparameter von acht gesunden Probanden. Die Statistik von Adrien-Marie Legendre (1752–1833) gewann nun an Bedeutung, wurde von Carl Friedrich Gauß verbessert und von Adolphe Quetelet (1796–1874) in der Medizin auf den Durchschnittsmenschen (homme moyen) bezogen. Der Quetelet-Index wird noch heute als Body-Mass-Index (BMI) für die Einschätzung der Körperproportionen benutzt. Statistische Methoden wurden nicht nur zum Ausgleich von Beobachtungsfehlern, sondern auch für die Erfassung der Variabilität in Kollektiven genutzt.

In Frankreich wurde die Entwicklung vorwiegend in Laboratorien von Apotheken vorangetrieben, während chemische Laboratorien in Kliniken erst später eingerichtet wurden. In den Forschungslabors wurde oft an lebenden Tieren experimentiert (Vivisektion), was viele Gegner auf den Plan rief. Als Nachfolger von F. Magendie hat Claude Bernard (1813–1878) die Substanzen und den Stoffwechsel, besonders der Leber, untersucht, die Begriffe „milieu intérieur“ und „sécrétion interne“ geprägt und das „Labor als das wahre Heiligtum der Medizin“ gepriesen. Als historische Remineszenz sei daran erinnert, dass in der DDR die standardisierten diagnostischen Laboratoriumsmethoden im Rahmen des Arzneibuches der DDR herausgegeben und die externe Qualitätskontrolle unter Verantwortung des Instituts für Arzneimittelwesen durchgeführt wurde, weil Laborreagenzien als Arzneimittel eingestuft wurden [5].

In England fanden 1792 die ersten Chemiekurse im Guys Hospital für Ärzte und Apotheker statt [6]. Das Apothekergesetz von 1815 forderte die Ausbildung in Anatomie, Physiologie und Medizinischer Chemie und legalisierte eine eingeschränkte Praxis durch Apotheker (kleine Operationen, Zahnbehandlung und einige Verordnungen). Die Gruppe um Richard Bright (1789–1858) richtete eine Forschungsstation für Nierenkranke ein und erweiterte die Forschung auf die Analyse von organischen Bestandteilen, wie Harnstoff, Harnsäure, Albumin und Bence-Jones-Protein, Letzteres benannt nach dem „best chemical doctor in London“ Henry Bence Jones (1813–1873). Alexander Marcet (1770–1822) gründete die Medico-Chirurgical Society of London und entwickelte bereits transportierbare chemische Tests für die Steinanalyse, entdeckte Xanthin und beschrieb 1821 eine Krankheit, die Karl Boedeker (1815–1895) als Alkaptonurie erkannte. William Prout (1785–1850) verbesserte die chemischen Analysen von Gay-Lussac und Liebig und wurde besonders bekannt durch Atomgewichtsbestimmungen der Elemente. Er erkannte, dass für quantitative Bestimmungen die Substanzen hochgereinigt sein müssen (ein methodisches Problem in der damaligen Zeit!). Der bei Liebig ausgebildete Wilhelm Thudichum (1829–1901) emigrierte nach England und widmete sich der Analytik von Urin (Eisenchloridtest für Kreatinin) und Gallensteinen und arbeitete über die Fluoreszenz der Karotinoide. Sein Hauptarbeitsgebiet wurde die Chemie des Gehirns, er charakterisierte etwa 140 Substanzen, wie Myelin, Kephaline, Sphingosin und Cerebroside. Er wurde von dem Biochemiker A. Gamgee anonym und unberechtigt angegriffen. Dem schlossen sich Felix Hoppe-Seyler und Richard Maly an. 28 Jahre nach Thudichums Tod wurden die extrahierten Substanzen gefunden, seine Ergebnisse konnten voll bestätigt werden. In dieser Umbruchsphase von Chemie und Medizin waren scharfe Angriffe auf vermeintliche (persönliche und nationalistische) Gegner und Prioritätsstreitigkeiten keine Seltenheit.

In Deutschland begann die Abkehr vom Vitalismus mit dem Aufblühen von Chemie, Physik und Technik. Schon 1820 hatte der von Goethe berufene J. W. Döbereiner (1780–1849) in Jena einen chemischen Privatkurs für Medizinstudenten durchgeführt. Eine führende Rolle nahm Justus von Liebig (1803–1873) ein, der die Organische Chemie seit 1831 auch an medizinische Studenten vermittelte und die Universtät Gießen zum Mekka für in- und ausländische Studenten und Forscher ausbaute. Standardwerk wurde sein Buch „Die Organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie“ (die sogenannte Thierchemie). Ein ähnliches Werk schuf der Vitalismusgegner Karl Asmund Rudolphi (1771–1832) mit der „Anthropochemie“, die zum „Grundriss der physiologischen Chemie“ wurde. Die Quantifizierung und Bilanzierung des Stoffwechsels wurde von Liebig stimuliert, indem er zum Beispiel die Harnstoff-Ausscheidung als Maß des Eiweißstoffwechsels einführte.

Den Gegenbeweis zum Vitalismus erbrachte Friedrich Wöhler (1800–1882), als er 1828 den körpereigenen Harnstoff aus anorganischem unbelebten Ammoniumzyanat künstlich erzeugte. Diese In-vitro-Synthese wurde zunächst kaum wahrgenommen, aber später zum „Schöpfungsmythos“ der organischen Chemie. Den endgültigen Beweis für den Ursprung des Lebens ohne Lebenskraft erbrachte 1953 Stanley Miller auf Anregung seines Doktorvaters Nobelpreisträger H. C. Urey, wobei durch elektrische Entladungen in einer methanhaltigen „Uratmosphäre“ nach einer Woche etwa 15 Prozent des Methans in andere organische Verbindungen, darunter auch Aminosäuren, umgewandelt wurden.

Chemische Laboratorien wurden zunehmend an Krankenhäusern und Instituten errichtet. Bereits 1808 gründete Johann Christian Reil (1759–1813) an der Schola Clinica in Halle ein chemisch-physikalisches Labor und unterrichtete dort Medizinstudenten [7]. In dem von ihm gegründeten Archiv für Physiologie lehnte er Animismus und Vitalismus ab, obwohl er früher die Idee einer Lebenskraft vertreten hatte. Auf Einladung von Wilhelm Humboldt ging Reil 1810 nach Berlin und führte bedeutende Untersuchungen über Gehirn und Nerven durch. Er richtete ein gut ausgestattetes Labor unter Leitung von Ludwig Sigwart (1784–1864) ein, womit die unmittelbare Untersuchung von Patientenproben möglich wurde. Mit der „psychischen Curmethode“ entwickelte Reil die Psychiatrie als selbstständige Disziplin und humanisierte die „Irrenbetreuung“.

Der Physiologe Johannes Peter Müller (1801–1858) wurde (nach einer kurzen Phase als Anhänger der Naturphilosophie) in Berlin zur beherrschenden Persönlichkeit der naturwissenschaftlich orientierten Medizin. In seiner Antrittsrede 1824 definierte er die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Philosophie, Beobachtung und Experiment neu und begründete damit die naturwissenschaftliche Medizin und biochemische Forschung. 1831 entdeckte er die sensorischen und motorischen Anteile der Spinalnerven und entwickelte die Reflexlehre und das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie. Er beschrieb die „Bildungsgeschichte der Genitalien“ (Müllerscher Gang) und die sezernierenden Drüsen. Einige seiner berühmten Schüler schufen die moderne experimentelle Medizin:

  • Hermann von Helmholtz (1821–1894), der „Reichskanzler der Physik“, Professor für Anatomie und Physiologie: Energieerhaltungssatz, Gibbs-Helmholtz-Gleichung, Nervenleitgeschwindigkeit und Ophthalmoskopie. Die Äquivalenz von Arbeit und Wärme wurde bereits fünf Jahre vor Helmholtz von Robert Mayer (1814–1878) gefunden, was Helmholtz zuerst mit Spott belegte, aber später anerkannte.
  • Emil Du Bois-Reymond (1818–1896): Elektrophysiologie der Nerven und Konstruktion präziser Messgeräte. Organfunktionen wurden streng nach chemischen und physikalischen Versuchsansätzen mit den besten verfügbaren Messgeräten untersucht.
  • Rudolf Virchow (1821–1902) wurde 1846 Prosektor in Berlin, nahm 1848 an Barrikadenkämpfen teil und musste deshalb nach Würzburg ausweichen, wo er mit Albert von Koelliker (Embryologie, Neuronentheorie) und Joseph von Scherer (1814–1869, Mitbegründer der Klinischen Chemie) die Würzburger physikalisch-medizinische Gesellschaft gründete. 1856 wurde Virchow wieder nach Berlin berufen. Als preußischer Abgeordneter vertrat er: „Die Medizin ist eine sociale Wissenschaft und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Er bekämpfte die Humorallehre und die in der 2. Wiener Schule von Carl von Rokitansky vertretene Krasenlehre. Bereits 1838 hatte Matthias Jacob Schleiden (1804–1881) bei Pflanzen zelluläre Strukturen gesehen. Drei Jahre später zeigte Theodor Schwann (1810–1882), dass auch Tiere in jedem Gewebe aus Zellen mit einer Membran bestehen. Beide Forscher entwickelten die Zelltheorie, sie erkannten, dass einige Organismen einzellig, andere mehrzellig sind und Membranen und Zellkerne zu den allgemeinen Eigenschaften gehören. Schwann erkannte, dass das tierische und menschliche Ei eine Einzelzelle ist, die sich zu einem vollständigen Organismus entwickelt (Karl Ernst von Baer hatte 1827 bereits das menschliche Ei, nicht die Eizelle, entdeckt). Virchow ergänzte, dass alle Zellen aus bereits vorhandenen Zellen entstehen („omnis cellula e cellula“). Die Urzeugung von Zellen aus organischer Materie hatte bereits Louis Pasteur ausgeschlossen. Robert Remak (1815–1865) und der Pathologe Friedrich Günsburg bewiesen 1842, dass sich Tumor- und Embryonalzellen primär durch Teilung des Zellkerns vermehren und nicht zunächst durch Vermehrung des Zytoplasmas und sekundäre Synthese des Kerns, wie von Virchow und Schwann vermutet. Obwohl Virchow Plagiatsvorwürfe gemacht wurden, wird ihm die Begründung der Zellularpathologie allgemein zuerkannt („Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“). Hervorzuheben sind auch Virchows Arbeiten über die Entstehung von Thrombosen und die Formulierung der Virchowschen Thrombose-Trias: Änderungen von Endothel, Strömungsgeschwindigkeit und Viskosität. 1880 übernahm Leopold Salkowski (1844–1923) die Leitung des Chemischen Labors am Pathologischen Institut und unterstützte damit die Gründung der Biochemie (340 Publikationen, 25 Nachweisreaktionen, Arbeiten über Autolyse).
  • Ernst Wilhelm von Brücke (1819–1892) ging über Berlin und Königsberg nach Wien und gehörte zu den Verfechtern der „organischen Physik“, die Physiologie auf der Basis der exakten Naturwissenschaften betrieb. In der damals üblichen Breite der Interessen forschte er über Elektrizität des Muskels, Anatomie des Ziliarmuskels, Ophthalmoskopie (mit Helmholtz), Verdauungsphysiologie, Pepsin, Gallenfarbstoffe, Blutgerinnung und erforschte das Protoplasma als Bestandteil der Zelle. Mit dem Polarisationsmikroskop entdeckte er die Querstreifung der Skelettmuskulatur. Daneben beschäftigte er sich mit Phonetik, Versmaß und Farbenlehre.

Eine Stellung zwischen Naturphilosophie und naturwissenschaftlicher Physiologie nahm der Anatom und Pathologe Jakob Henle (1809–1885) ein. Einen wichtigen neuen Ansatz publizierte er 1840 in der Schrift „Von den Miasmen und Contagien und von den miasmatischen-contagiösen Krankheiten“. Obwohl Mikroorganismen als mikroskopische Gebilde schon früher beschrieben wurden (R. Hooke, A. van Leeuwenhoek, L. Pasteur), hat Henle erstmals dargestellt, dass „Parasiten“ die Ursache von Infektionen sein könnten. Für den Beweis forderte und formulierte er bestimmte Kriterien. Robert Koch (1843–1910), ein Schüler von Henle, hat gemeinsam mit E. Klebs und F. Loeffler drei Schritte (Isolieren, Kultivieren, Verimpfen) formuliert, die auch als Henle-Koch-Postulate bezeichnet werden. Damit war die Mikrobiologie – eine der größten Errungenschaften in der Medizin – eingeleitet.

Eine weitere philosophische Richtung wurde im sogenannten Materialismusstreit deutlich. Jakob Moleschott (1822–1893) vertrat wie Carl Vogt und Ludwig Büchner (Bruder von Georg Büchner) die Position des wissenschaftlichen Materialismus und wurde von dem Philosophen Ludwig Feuerbach unterstützt. Er postulierte, dass alle Erkenntnis auf Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen beruhe. Das Denken sei eine Gehirnbewegung. Seine experimentellen physiologischen Arbeiten fasste er in 14 Bänden „Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere“ zusammen: „Der Mensch ist die Summe von Eltern und Amme, Ort und Zeit, Luft und Wetter, Schall und Licht, Kost und Kleidung, also stark durch äußere Einflüsse bedingt.“ Deshalb untersuchte er die Abhängigkeit der Stoffwechselaktivität von Art und Bau der Tiere, von Temperatur und Stärke der Belichtung und beschrieb den unterschiedlichen Stoffwechsel hungernder und winterschlafender Tiere.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts warnte Virchow: „Unser größter Feind ist der Mangel an logischem Verständnis und an geschulter Dialektik“ mit der Gefahr des Rückfalls in die Unwissenschaftlichkeit. Die Entwicklung der Kliniken blieb jedoch zunächst hinter den Grundlagenfächern zurück. Der bekannte Internist und Diabetologe Bernhard Naunyn (1839–1925) meinte 1900: „Medizin könne nie naturwissenschaftlich und human zugleich sein“. 1905 korrigierte er sich: „Die Medizin wird eine Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein.“

Literatur

  • Fiedler H: Galle und Gallensäuren. Teil 1. MTA Dialog 2019; 20: 488–91.
  • en.wikipedia.org/wiki/Romantic_medicine
  • Jewson ND: The disappearance of the sick-man from medical cosmology. 1770–1870. Sociology 1967; 10: 255–44.
  • Kirschner M, Gerhart J, Mitchison T: Molecular „vitalism“. Cell 2000; 100: 79–88.
  • Anordnung über diagnostische Labormethoden. Gesetzbl. DDR, Teil I, Nr. 5, 10. 3. 1987.
  • Coley NG: Medical chemists and the origin of clinical chemistry in Britain (circa 1750–1850). Clin Chem 2004; 50: 961–72.
  • Binder DK, Schaller K, Clusmann H: The seminal contributions of Christian Reil to anatomy, physiology and psychiatry. Neurosurgery 2007; 61: 1091–6.
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Zellbiologie

Entnommen aus MTA Dialog 9/2020

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