Interview mit Prof. Dr. Oliver W. Sakowitz

Erste Einblicke in ANIM 2022-Tagungsschwerpunkte
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Vom 20.-22. Januar 2022 findet die Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin (ANIM) als Digitalveranstaltung statt. Kongresspräsident Prof. Dr. med. Oliver Sakowitz betont, dass bei der 39. Gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) neben neuen Erkenntnissen zur COVID-19-Pandemie auch andere Erkrankungen, die unter erschwerten Bedingungen während der Corona-Pandemie behandelt werden, sowie auch die aktuellen Entwicklungen in der NeuroIntensivmedizin eine wichtige Rolle spielen werden. Im Interview gibt er vorab erste Einblicke in wissenschaftliche Themenschwerpunkte und Highlights.

Drei Tage lang tauschen sich Experten im Bereich der Neurologischen und Neurochirurgischen Intensivmedizin und Neurochirurgie in einem umfassenden Update aus und diskutieren neueste Erkenntnisse. Welche Schwerpunkte haben Sie als Kongresspräsident gesetzt?

Prof. Sakowitz: Bei aller Enttäuschung, auch in diesem Jahr nicht in Präsenz tagen zu können, haben wir uns ein Herz gefasst und entschieden, alle Inhalte, so wie wir sie für Ludwigsburg geplant hatten, ins Netz zu bringen. Das betrifft also alle Hauptthemen mit insgesamt 38 Symposien, alle Vortrags- und Postersitzungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die erstmals geplante Stroke Winter School der DSG, sowie die besonders begehrten Kurse der Fortbildungsakademie der DGNI, den gemeinsam mit unseren Freunden der amerikanischen Neurocritical Care Society (NCS) angebotenen „Emergency Neurological Life Support“ (ENLS) Kurs, das Curriculum „Leitsymptome in der Notaufnahme“ und auch zahlreiche von unseren Industriepartnern gesponserte Symposien. Als Schwerpunktthemen haben wir in diesem Jahr die Subarachnoidalblutung, schwere Erkrankungen des Rückenmarks, Delir auf Intensivstation und Stroke Unit / IMC sowie Organisation und Struktur der NeuroIntensivmedizin gewählt.

Welche Änderungen wird es beim digitalen Kongress geben?

Prof. Sakowitz: Ich bin mir sicher, dass mit bis zu sechs parallelen Streams für alle Teilnehmer zu jedem Zeitpunkt ein attraktives Angebot besteht. Ein Wermutstropfen ist es, dass wir die „hands-on“-Workshops nicht wie geplant abhalten können und dass wir unser Kooperationsprojekt „NeuroNotfall Kurs“ mit dem RKH (Regionale Kliniken Holding) -Simulationszentrum in Vaihingen (Enz) nicht vorstellen können. Da haben viele aktive Mitglieder der DGNI Schweiß und Herzblut reingesteckt. Wir werden es aber nicht dabei belassen, sondern es dann auf den ANIMs der kommenden Jahre noch einmal ins geeignete Licht rücken.

Die ANIM 2022 steht als Bindeglied zwischen Forschung und Praxis der neuromedizinischen Fachrichtungen sowie dem Pflege- und Therapiebereich. Inwiefern bedeutet das während der komplexen Probleme der COVID-19-Pandemie eine besondere Herausforderung?

Prof. Sakowitz: Der Fachkräftemangel in diesen Bereichen war schon immer unser Thema als individuelle Fachgesellschaft und im übergreifenden Verbund mit der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Die Pflegenden und TherapeutInnen der Neurointensivstationen, Stroke-Units und Neuro-IMCs sind da wahrscheinlich genauso „gebeutelt“ wie die originär auf internistischen Intensivstationen Tätigen. Viele wurden zusammengezogen und umdisponiert, ohne dass auf etablierte Teamstrukturen und individuelle Neigungen groß Rücksicht genommen werden konnte. Versprochen wurde viel, passiert ist wenig. Unser Leben war auch vorher schon spannend. Wir alle hoffen möglichst bald wieder auf „ein bisschen Normalität“.

Liegen schon Daten darüber vor, zu welchen neuroIntensivmedizinischen Komplikationen es führen kann, wenn das Coronavirus auch das Nervensystem befällt? Werden Ansätze vorgestellt, die Gefahr von neurologischen Langzeitschäden zu beurteilen?

Prof. Sakowitz: Beobachtet wurde bislang eine Vielzahl von neurologischen Manifestationen, sowohl akut als auch chronisch, vom Schweregrad mild bis fatal. Der Zusammenhang ist hierbei aber meist indirekt, z.B. über Gerinnungsstörungen, Entzündungen der Gefäßwände, Autoimmunreaktionen, Minderdurchblutung, Hypoxie. Die COVID-assoziierte Para- oder Anosmie – Störungen oder Verlust des Geruchssinns – dürfte jedem ein Begriff sein, und die Invasion der Riechschleimhaut durch das Virus ist gesichert. Jenseits davon wird es spekulativ. Dem möchte und kann ich als Tagungspräsident – und Neurochirurg – aber nicht unnötig vorgreifen. Wir werden hierzu in einzelnen Sitzungen den Diskurs führen. Auch im Präsidentensymposium haben wir hier einen herausragenden Beitrag vorgesehen.

Die ANIM ist wieder vielfältig aufgestellt: in Kooperation mit anderen Fachgesellschaften, interdisziplinär, interprofessionell und international. Welche thematischen Schwerpunkte liegen Ihnen besonders am Herzen?

Prof. Sakowitz: Alle. Wir hätten uns sehr gefreut, die ANIM 2022 als Präsenzveranstaltung durchzuführen. Leider war das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Dennoch ist keine der als Kooperationspartner an der ANIM beteiligten Fachgesellschaften zurückgetreten. Noch nicht genannt habe ich die Interdiszplinäre Arbeitsgemeinschaft Neuromedizin (ADNANI), die Sektion Neurotraumatologie und Intensivmedizin der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC), die Deutsche Gesellschaft für Liquordiagnostik und Klinische Neurochemie (DGLN), die Deutsche Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB) und die AG Schlaganfallstationen Baden-Württemberg.

Die Diskussion über Strukturen in der NeuroIntensiv- und Notfallmedizin und die Neuro-Notfallmedizin in der Zentralen Notaufnahme ist weiter aktuell. Wie ist langfristig eine flächendeckende neurointensivmedizinische Versorgung auf hohem Niveau zu gewährleisten?

Prof. Sakowitz: Der berufspolitische Aspekt ist hier gegenwärtig vielleicht etwas in den Hintergrund geraten. Diese Strukturen und die Prozessabläufe zwischen ihnen sollten wir auf der ANIM intensiv diskutieren. Als wissenschaftliche Fachgesellschaft haben wir uns in den letzten Jahren auf die Bedürfnisse der neurointensivmedizinischen Weiterbildung der Assistenzärzte und -ärztinnen sowie die Inhalte der Zusatzweiterbildung Intensivmedizin fokussiert.

Ganz konkret stellt sich auch die Frage, wo weitergebildet werden sollte. Die für die Weiterbildung ermächtigten Kliniken sind hier einmal mehr gefordert, durch geeignete Ausbildungskonzepte und überregionale Rotationen, virtuelle Schulungsmaßnahmen und Simulationstrainings auch eventuelle durch die COVID-19-Pandemie entstandene Fehlzeiten und Defizite auszugleichen.

Werden Preise und Stipendien für geplante und abgeschlossene Projekte pandemiebedingt ausgesetzt?

Prof. Sakowitz: Nein. Natürlich beeinflusst die Pandemie nahezu alle Bereiche unseres Lebens, und davon ist selbstverständlich auch die neurowissenschaftliche Forschung betroffen. Dem geben wir allerdings nicht klein bei, sondern machen unseren Einfluss als Fachgesellschaft erst recht geltend. Das gilt zum einen für besonders brillante Forschungsvorhaben, die zum Beispiel mit dem Nachwuchspreis der DGNI gefördert werden, und dann natürlich auch für abgeschlossene Projekte, die zum Beispiel mit dem Pflegepreis gewürdigt werden. Der alle zwei Jahre gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und DGNI verliehene NeuroIntensivpreis 2022 ist eine Auszeichnung für Kolleginnen und Kollegen mit besonders herausragenden Forschungsleistungen.

Ein besonderes Highlight des Kongresses ist wieder das Präsidentensymposium, das traditionell thematisch frei vom Kongresspräsidenten gestaltet wird. Was wird das Thema Ihres Symposiums sein?

Prof. Sakowitz: Wir haben erfreulicherweise gleich drei ausgezeichnete Neurowissenschaftler gewinnen können, die jeweils spezifische Akzente zu den Schwerpunktthemen der ANIM 2022 setzen werden. So wird Professor Norbert Weidner vom Universitätsklinikum Heidelberg und Co-PI der gegenwärtig laufenden NISCI - („No-Go Inhibition in Spinal Cord Injury“) Studie über den neuesten Stand der Paraplegiologie in Bezug auf traumatische Rückenmarkverletzungen referieren. Professor Jens Dreier, Neurologe an der Charité, ist NeurIntensivmedizinerInnen durch seine experimentellen und klinischen Untersuchungen zu kortikalen Streudepolarisationen wohlbekannt. Neue Daten zur Bedeutung bei der aneurysmatischen Subarachnoidalblutung stehen zur Veröffentlichung an.

Auch das alles überschattende Thema „Neuro-Covid“ kommt zum Tragen: Privatdozent Dr. Raimund Helbok aus Innsbruck wird einen Überblick mit aktuellen Daten zu neurologischen Manifestationen der Corona-Erkrankung im europäischen und internationalen Vergleich geben.

Die NeuroIntensivmedizin hat sich rasant weiterentwickelt. Welche Entwicklungen könnten mit Blick auf die nächsten Jahre zur weiteren Verbesserung beitragen?

Prof. Sakowitz: Zusammen mit ÄrztInnen und PflegewissenschaftlerInnen der US-amerikanischen NCS werden wir auf der Arbeitstagung über ein Projekt berichten, das seine Wurzeln bereits 2018 auf der ANIM in Würzburg hatte: Die gemeinsamen Leitlinien zur Prognosestellung in der NeuroIntensivmedizin stehen unmittelbar vor der Fertigstellung.

Die zunehmende Vernetzung von NeuroIntensivmedizinern, insbesondere von denen, die aktiv nach Antworten suchen, ist vielleicht die ermutigendste Entwicklung der letzten Jahre. Wir haben mit der Initiative of German NeuroIntensive Trial Engagement (IGNITE)-Gruppe ein besonders vielversprechendes Beispiel in unseren eigenen Reihen. Sehen Sie sich das IGNITE-Symposium auf der ANIM 2022 an! Dann werden Sie sehen, was ich meine ...

Die Corona-Pandemie hat die Wichtigkeit digitaler Netzwerke für den Informationsaustausch gezeigt. Welche Rolle spielt die telemedizinische Mitbetreuung für neurologisch/ neurochirurgisch erkrankte Patienten, die nicht auf NeuroIntensivstationen behandelt werden können? Welche weiteren Entwicklungen digitaler Vernetzung können noch zum Fortschritt in der NeuroIntensivmedizin beitragen?

Prof. Sakowitz: Hier ist in der Tat etwas „katalysiert“ worden, was sonst noch ein bis zwei Jahrzehnte problemlos hätte schlummern können. Es wäre erfreulich, wenn irgendwann nur noch diese Auswirkung der Pandemie im kollektiven Gedächtnis bliebe.

Teleradiologischen Datenaustausch hatten NeuroIntensivmedizinerInnen schon länger. Es wird nun allerdings zunehmend möglich, ressourcenschonend Fachexpertise, ganz gleich in welchem Bereich der Medizin, vis-a-vis mit Patienten zu bringen, die hiervon sonst nicht profitieren könnten. Das kann dann einerseits in überaus relevante Diagnostik- und Therapieentscheidungen vor Ort münden, oder den zügigen Transport in ein Zentrum fazilitieren.

Die Akutbehandlung beim Schlaganfall ist in Deutschland auf einem hohen Niveau. Welche Rolle spielen die Neurovaskulären Zentren/ regionale Stroke-Units? Was sind weitere Entwicklungen?

Prof. Sakowitz: Neurovaskuläre Zentrenbildung wird gegenwärtig besonders durch das von der DSG unterstützte Zertifizierungskonzept der Neurovaskulären Netzwerke (NVN) befördert. Diese NVN müssen nicht nur über ein breites diagnostisches wie therapeutisches Methodenspektrum verfügen, das über den akuten ischämischen Schlaganfall hinausgeht, sondern auch Strukturen vorweisen – z.B. interdisziplinäre Boards und Sprechstunden –, die als Qualitätsindikator einer besonders hochwertigen Indikationskultur gelten. Dahin wird die Reise gehen.

Worauf freuen Sie sich persönlich ganz besonders?

Prof. Sakowitz: Ganz ehrlich? Wenn die gegenwärtige Infektionswelle bricht und zum Ende dieses Jahres ausläuft, wenn sich Schäden von unseren COVID- und Non-COVID-Patienten – aber auch unseren Kollegen – abweisen lassen, und wenn wir im Januar wieder etwas durchatmen können und möglichst viele interessierte Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit haben, an der virtuellen ANIM 2022 teilzunehmen, … dann kann ich mich über jede Facette der Tagung freuen.

Quelle: conventus

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