Im Angesicht der „Pestilenz“

Rezension
Hardy-Thorsten Panknin
Im Angesicht der „Pestilenz“
Keineswegs ist die Pest ein Problem mangelnder Hygiene und ihre Ansiedlung in Europa nach 1348–1351 dadurch nicht zu erklären.
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Die Geschichte der großen Seuchen ist ein Grenzgebiet, das sowohl die Geschichts-, Bevölkerungswissenschaft, Medizin, Krankenpflege als auch die Politik betrifft. Die zeitgenössischen „Pestberichte“ – worunter auch andere Infektionen zählten – legen ein bemerkenswertes Zeugnis über Panik und Entsetzen der Augenzeugen ab, und sie beschreiben den gesellschaftlichen Zusammenbruch und das Zerbrechen von familiären Bindungen und Freundschaften.

Jede Kulturstufe hat sich mit den Infektionskrankheiten unterschiedlich auseinandergesetzt. Der primitiven Stufe entsprach der Dämonenglauben: Ein fremder böser Dämon hat ein Volk oder einen Kranken befallen und muss wieder ausgetrieben werden. Die Erkenntnis von den belebten Krankheitserregern vor 150 Jahren ließ es dann gewissermaßen als Zufall erscheinen, ob und wann ein Mensch sie in sich aufnahm und daran erkrankte, und dieses eingleisige Ursachendenken verhinderte lange die Stellung der Frage nach Sinn und Bedeutung der Infektionskrankheiten für den Menschen. Seit dem 16. Jahrhundert waren erste Quellen zu finden, an denen statistische Methoden angewandt werden konnten, die über die verheerenden kontagiösen Infektionskrankheiten damaliger Zeit – besonders der Pest – Auskunft geben.

Keineswegs ist die Pest ein Problem mangelnder Hygiene, und ihre Ansiedlung in Europa nach 1348–1351 dadurch nicht zu erklären. Sie ist auch nicht in erster Linie eine medizinische Angelegenheit, sondern vielmehr ein wesentlich biologisches Geschehen. Jüngere Erkenntnisse der medizinischen und archäogenetischen Forschung haben inzwischen neues Licht auf den Erreger der verheerenden Pandemie des „Schwarzen Todes“ zur Mitte des 14. Jahrhunderts geworfen. Hinzu kommt, dass sich auch die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahren neue Zugänge zu diesem breiten Themenfeld erschlossen hat. Verstärkt in den Fokus gerückt ist dabei fasslich die Frage nach der politischen Dimension der Pest. Um diesen Entwicklungen in gleichem Maße gerecht zu werden, wurde die ursprüngliche Textfassung der Habilitationsschrift des Herausgebers mit Blick auf den gegenwärtigen Stand der Forschung einer umfassenden Revision unterzogen. Der Autor, Prof. Dr. phil. Kay Peter Jankrift, am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart tätig, beschreibt:

  • Seuchen als Bedrohung, Herausforderung und städtisches Problem zwischen Kontinuität und Wandel
  • Seuchen als Gegenstand mittelalterlich-frühneuzeitlicher Quellen am Beispiel westfälischer und niederrheinischer Städte
  • Epidemiologische Faktoren – ein Vergleich städtischer Wirkungsfelder zwischen Niederrhein und Weser
  • Formen, Strukturen und Entwicklungen der Auseinandersetzung mit Seuchen in westfälischen und rheinischen Städten vom Hochmittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts im Vergleich
  • Die Auseinandersetzung mit Seuchenphänomen zwischen Angst und Ohnmacht, Gottvertrauen und empirischer Erkenntnis

Noch ein historisches Seuchenbuch? In der Tat liegen über „Seuchen“ bereits eine Vielzahl an Werken vor. Westeuropa ist seit Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute frei von größeren Ausbrüchen von Seuchen, wie der Pest, geblieben. Die Pestepidemie und auch andere Seuchen hörten plötzlich auf, wie sie begonnen hatten, die genauen Gründe dafür kennt man bis heute allerdings nicht. In den letzten 50 Jahren wurde nur von einem Pestfall berichtet, der nach Europa eingeschleppt worden war. Gegenwärtig werden die Pest und auch andere kontagiöse Infektionskrankheiten in Europa nur noch historisch betrachtet. Trotzdem: Die Pest und auch andere kontagiöse Infektionen – häufig als „gemeingefährliche Krankheiten“ bezeichnet – sind wiederkehrende Infektionskrankheiten, auch noch im 21. Jahrhundert. Mit kleineren Epidemien ist auch in Zukunft zu rechnen. Wer sich über das Seuchengeschehen vergangener Zeiten – es sollte heute in dem Kontext von Infektionserkrankungen gesprochen werden – historisch und wissenschaftlich informieren möchte, findet in dem Buch geballtes Fachwissen nach neuen Erkenntnissen aus der medizinischen und archäogenetischen Forschung. Es zeigt dazu auch die Komplexität der Versorgungssituation, die durch vielfältige Phänomene damaliger Zeit geprägt war. Ein sehr lesenswertes, wissenschaftliches und vor allem historisches Meisterwerk, das die bekannten Standardwerke im deutschsprachigen Raum von Heinrich Haeser: Lehrbuch der Geschichte der Medizin – und der epidemischen Krankheiten (1898), Georg Sticker: Abhandlungen aus der Seuchengeschichte und Seuchenlehre (1908), Erich Martini: Wege der Seuchen (1936) und Seuchen im Menschen (1959), Erich Woehlkens: Pest und Ruhr (1954) und last, but not least Stefan Winkle: Geißeln der Menschheit – Kulturgeschichte der Seuchen (2005) komplettiert.

Im Angesicht der „Pestilenz“: Seuchen in westfälischen und rheinischen Städten (1349–1600).
Von: Kay Peter Jankrift, Taschenbuch: 388 Seiten, Franz Steiner Verlag, ISBN: 978–3515123532, 15. Januar 2020, Preis: 62,00 Euro

Entnommen aus MTA Dialog 7/2020

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