Der Entdecker des Darmbakteriums Escherichia coli

Der Kinderarzt und Bakteriologe Theodor Escherich (1857–1911)
Christof Goddemeier
Porträt des Kinderarztes und Bakteriologen Theodor Escherich
Theodor Escherich © NIH/public domain
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„Welchen Antheil nehmen die geformten Elemente an der normalen Verdauung und bis zu welchem Grade werden die Nahrungsstoffe durch sie im Darme zersetzt? Die moderne Physiologie und Pathologie, namentlich die letztere, die mit ängstlicher Sorge bei jeder Infectionskrankheit nach Pilzen sucht, hat diesen normal und in so grosser Menge im Thierkörper vorkommenden Organismen bis jetzt keine gebührende Beachtung geschenkt. Eine genaue Antwort auf obige Frage ist nicht möglich.“

Dieses Zitat des Mediziners und Chemikers Marcel Wilhelm von Nencki aus seiner Studie „Ueber die Zersetzung der Gelatine und des Eiweisses (...)“ (1876) stellte Theodor Escherich seiner bahnbrechenden Monografie über „Die Darmbakterien des Säuglings“ (1886) voran. In Nenckis Worten fand er „die Berechtigung, das Ziel und die Bedeutung der vorliegenden Studie für die Physiologie und Chemie der Verdauung“ so zutreffend ausgedrückt, dass er „denselben Nichts hinzuzufügen“ hatte. In seiner Arbeit beschrieb Escherich 19 verschiedene Bakterienspezies hinsichtlich ihrer Morphologie und Kultivierungsbedingungen. Mit einer Spezies beschäftigte er sich besonders und nannte sie „Bacterium coli commune“. Er fand es in Reinkulturen des Stuhls von Säuglingen, die gestillt wurden. Später entdeckte er es auch im Stuhl Erwachsener. Acht Jahre später zeigte er, dass der von ihm entdeckte Keim Zystitis verursachen kann. 1919 schlugen Aldo Castellani und Albert J. Chalmers vor, die Spezies zu Ehren von Escherich in „Escherichia coli“ umzubenennen. Offiziell anerkannt wurde dieser Name jedoch erst 1958. Escherichia coli ist die wichtigste Spezies der Gattung Escherichia und kommt regelmäßig im Dickdarm von Mensch und Tier vor. Auf Empfehlung der WHO (Weltgesundheitsorganisation) dient das Bakterium deshalb seit 2003 als Indikatorkeim für fäkale Verunreinigung von Trink- und Badewasser sowie Lebensmitteln. Es gehört zur Familie der Enterobakterien, das sind gramnegative, fakultativ anaerobe Stäbchen, die keine Sporen bilden.

Theodor Escherich wurde 1857 als erstes Kind des Medizinalrates Ferdinand Escherich und seiner Frau Maria in Ansbach geboren. Seine Mutter starb kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes Ferdinand, da war Escherich fünf Jahre alt. 1867 zog die Familie nach Würzburg. Hier beendete Escherich das humanistische Gymnasium und begann im gleichen Jahr, an der Julius-Maximilians-Universität Medizin zu studieren. Nach Aufenthalten in Kiel und Berlin schloss er sein Studium 1881 mit der Approbation ab. Zunächst arbeitete er als Assistenzarzt bei Carl Gerhardt im Julius-Spital. Gerhardt weckte sein Interesse an der neuen Disziplin Pädiatrie, und Escherich beschloss, sich in Kinderheilkunde zu spezialisieren. Seine bakteriologische Arbeit begann er am Pathologischen Institut des St. Anna Kinderspitals in Wien. Hier fand er, dass Milch aus der mütterlichen Brust üblicherweise steril ist. Wenn die Mutter jedoch an einer Infektion erkrankt war und Fieber hatte, zeigten sich in der Milch verschiedene Kokken. Escherich identifizierte gelbe und weiße Kolonien, wahrscheinlich handelte es sich dabei um Staphylococcus aureus und Staphylococcus epidermidis. Doch er verfolgte das Thema nicht weiter.

Vorstellung seiner Ergebnisse 1885

Ab 1884 setzte er seine Studien in München fort. Hier verfügte die Kinderheilkunde bereits über eine eigene Abteilung innerhalb der Medizinischen Fakultät. Von Wilhelm Frobenius, einem Schüler Robert Kochs, lernte Escherich das bakteriologische Handwerk – verschiedene Kulturverfahren und die Charakterisierung von Bakterien. In einem Vortrag auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 fand Escherich die Untersuchungsverhältnisse beim Stuhl „ungleich günstiger als beim Harne, wenigstens im Säuglingsalter“. Zudem biete der Säuglingsstuhl „der Diagnostik und Analyse sehr viel günstigere Verhältnisse als bei den Erwachsenen. Während er bei diesen eine in stinkende Fäulnis übergegangene, zu ein Drittel aus Bakterien bestehende Masse darstellt, ist der Stuhl des Säuglings infolge der absolut viel geringeren Länge des Darmtraktes dem Verhalten bei einer Dünndarmfistel vergleichbar und zeigt gleich dem Dünndarminhalte saure Reaktion, keine Fäulnis und relativ spärliche Bakterien; Nahrungsbestandteile werden darin, wenn überhaupt, in relativ wenig verändertem Zustande gefunden.“ Ausdrücklich würdigte er hier auch die „Pädiatrische Bakteriologie“: „Der Grund, warum die Bakteriologie gerade auf die Kinderheilkunde eine so hervorragende Bedeutung hatte, liegt darin, daß in keinem Lebensalter die Infektionskrankheiten eine so große Rolle spielen.“

In einem Vortrag 1885 stellte Escherich erste Ergebnisse seiner Studien und ihre Bedeutung für die Physiologie und Pathologie von Darmbakterien vor. Im gleichen Jahr fand er eine neue Technik zur bakteriologischen Untersuchung von kindlichem Stuhl. Damit konnte er „10 Bakterienspezies, 5 Kokken, einige Sarcina und Hefe“ nachweisen. Sarcina ist eine Gattung aus der Familie der Clostridien. Sie kommt unter anderem in Stuhl und Magen vor und gilt als nicht pathogen. Escherich zeigte, dass Mekonium (Neugeborenenstuhl) frei von Keimen ist, die ersten Bakterien entdeckte er vier bis sieben Stunden nach der Geburt.

Kultivierung mit der Plattenmethode nach Koch

In seiner Monografie über „Die Darmbakterien des Säuglings“ war Escherich bewusst, dass „die morphologische Uebereinstimmung durchaus noch nicht zum Nachweis der Identität der Bakterien genügt, und es war sehr wohl möglich, dass die scheinbare Einfachheit der Verhältnisse nunmehr in ein Gemenge biologisch sehr verschiedener Pilze sich auflöste“. Die Kontrolle mit dem Mikroskop war also unverzichtbar. Zur Kultivierung verwendete Escherich „in erster Linie“ die „Plattenmethode nach Koch“, das heißt ein „kleines Partikelchen des in der früher beschriebenen Weise entnommenen Kothes wurde direkt in Nährgelatine vertheilt“. Zudem kam Agar-Agar 1–1,5 % zum Einsatz, er hatte entweder die gleiche Zusammensetzung wie die Nährgelatine oder „statt des Fleischinfuses 0,5 % Fleischextract“.

Das „Bacterium coli commune“ wurde Escherich zufolge „bislang nur im Darmkanal und zwar besonders reichlich in den unteren Abschnitten desselben gefunden und deshalb mit dem Namen der ‚Colonbakterien‘ bezeichnet. Allerdings sprechen andere Thatsachen dafür, dass es ein sehr verbreiteter Fäulniskeim ist.“ Unter dem Mikroskop wies es „eine viel größere Polymorphie auf als (...) der Milchsäurebacillus“. Escherich beschrieb den „Stäbchencharakter“, Sporenbildung beobachtete er nicht. Und „bei Luftabschluss können sie weder auf dieser noch auf Milchzuckerlösungen, wohl aber auf Traubenzucker sich vermehren“. Verschiedenen Tierarten gegenüber sind die Bakterien unterschiedlich pathogen: „Mäuse, subcutan damit inficirt, erkrankten nicht. Dagegen starben Meerschweinchen, schon wenn geringe Mengen ins Blut injicirt wurden, nach Ablauf von längstens 24 Stunden unter Collapserscheinungen.“ Zusammenfassend konstatierte Escherich, dass „die grosse hier geschilderte Gruppe der Colonbakterien“ genug gemeinsame Eigenschaften besitzt, „um unter einer gemeinsamen Bezeichnung zusammengefasst werden zu können. Einzelne Beobachtungen lassen es mir nicht unmöglich erscheinen, dass hier mit genauerer Untersuchung und vervollkommneten Methoden noch weitere bestimmte Arten differenzirt werden können.“ Doch die Unterscheidung gegenüber ähnlichen, von anderen Autoren beschriebenen Arten, deren Zahl sich gerade in der letzten Zeit erheblich vermehrt habe, sei äußerst schwierig. Große Ähnlichkeit fand er etwa mit einem von Ludwig Brieger aus den Fäzes isolierten, Propionsäure erzeugenden Bazillus. Auch Emil Emmerichs „Diphtherie- und Neapler Bakterien“, drei von Eugen Fraenkel beschriebene Arten aus dem Vagina- und Tubeninhalt von verstorbenen Wöchnerinnen sowie die von Hans Buchner geschilderten „den Neapler Bakterien nahestehenden Spaltpilze“ zog Escherich differenzialdiagnostisch in Betracht.

Beschreibung von Campylobacter

1884 verbrachte Escherich im Auftrag der bayerischen Staatsregierung einige Wochen in Neapel, um eine Choleraepidemie zu studieren. Als Erster beschrieb er hier eine Bakteriengattung, die heute unter dem Namen „Campylobacter“ bekannt ist. Er fand die schlanken, spiralig gekrümmten Stäbchen im Stuhl von Patienten, die an Cholera erkrankt waren. Im gleichen Jahr isolierte er den Keim, den er „Zahnspirochäte“ nannte, in tiefen Schleimhautschichten des Dickdarms von sechzehn Kindern, die an gastrointestinalen Erkrankungen verstorben waren. Doch er brachte das Bakterium nicht ursächlich mit diesen Erkrankungen in Verbindung, sondern nahm an, dass seine Anwesenheit im Darm auf pathologische Darmveränderungen mit nachfolgender bakterieller Besiedlung zurückzuführen sei.

Durch seine Forschung und Veröffentlichungen weithin bekannt, wurde Escherich bereits mit dreiunddreißig Jahren ordentlicher Professor in Graz. Innerhalb von zwölf Jahren machte er das St. Anna Kinderspital von einem unbekannten Provinzkrankenhaus zu einer modernen Klinik. So schaffte er zwei Jahre nach Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Röntgen einen Röntgenapparat an und führte die „Serumtherapie“ zur Behandlung der Diphtherie ein. 1899 eröffnete er eine eigene Neugeborenenstation mit besonderen Hygienestandards. Hier wurden etwa gesunde und kranke Säuglinge voneinander getrennt – zu der Zeit eine äußerst fortschrittliche Maßnahme zur Infektionsprävention. Neben seiner fachlichen Expertise war Escherich ein begabter Organisator – eine wesentliche Voraussetzung für die Finanzierung seiner Vorhaben.

1894 isolierte Escherich „Bacterium coli commune“ im Urin von sieben Mädchen mit Zystitis. Er schloss daraus, dass der Keim die Zystitis verursache, denn er fand ihn nur so lange im Urin der Mädchen, wie diese Symptome aufwiesen. Zwar konnte Escherich von den heute bekannten Enteropathogenen, Enterotoxischen, Enteroinvasiven sowie Extraintestinalen pathogenen Escherichia coli (EPEC, ETEC, EIEC, ExPEC) noch nichts ahnen, doch er rechnete bereits damit, dass es neben den kommensalen Darmbakterien auch Stämme gibt, die Krankheiten hervorrufen können.

1902 erhielt Escherich einen Ruf nach Wien. Er nahm unter der Bedingung an, dass das dortige Spital von Grund auf renoviert würde und plante selbst im Detail Quarantänestationen, radiologische Diagnostik sowie chemische und bakteriologische Labors. Neben seiner beruflichen Tätigkeit gründete Escherich den „Verein Säuglingsschutz“ und warb für das Stillen. Konflikten mit der Politik, die er für die schlechten sozialen Verhältnisse und die damit einhergehende hohe Säuglingssterblichkeit verantwortlich machte, ging er nicht aus dem Weg. 1911 starb Theodor Escherich mit nur 53 Jahren in Wien an den Folgen eines Schlaganfalls. Die Namensgebung des vom ihm entdeckten Darmbakteriums hat er nicht mehr erlebt. In Ansbach und Wien erinnert eine Straße an den bedeutenden Kinderarzt und Bakteriologen.


Literatur

1.    Abel-Wanek U: Theodor Escherich. Der Pädiater und der Problemkeim. Pharmazeutische Zeitung online, Ausgabe 24, 2011.
2.    Blum-Oehler G, Dobrindt U, Hacker J, ter Meulen V (Hg.): Escherichia coli – Facets of a Versatile Pathogen. Nova Acta Leopoldina, Nummer 359, Band 98. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2008.
3.    Escherich T: Darmbakterien des Säuglings und ihre Beziehung zur Physiologie der Verdauung. Stuttgart: Verlag Ferdinand Enke 1886.
4.    Hellbrügge T (Hg.): Gründer und Grundlagen der Kinderheilkunde. Documenta Pädiatrica, Bd. 4. Lübeck: Hansisches Verlagskontor 1979.

 

Entnommen aus MTA Dialog 7/2022

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