Barbara McClintock (1902–1992) - „Ein Gespür für das Leben“

Entdeckerin der „springenden Gene“
Christof Goddemeier
„Ein Gespür für das Leben“
Barbara McClintock 1947 in ihrem Labor © Smithsonian Institution/Science Service; Restored by Adam Cuerden, gemeinfrei
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Dass sie den Nobelpreis für Medizin und Physiologie bekommen hat, erfuhr Barbara McClintock aus dem Radio. Ein Telefon besaß sie nicht. Jahrzehnte, nachdem sie die sogenannten springenden Gene entdeckt hatte, erhielt die 81-Jährige die höchste Auszeichnung in der Medizin.

Die Jury-Mitglieder verglichen die Biologin mit Gregor Mendel, dem „Vater der Genetik“. „Sie führte ihre Arbeiten alleine und zu einer Zeit durch, als ihre Zeitgenossen noch nicht in der Lage waren, die Allgemeingültigkeit und Bedeutung ihrer Entdeckungen zu erkennen“, sagte das Preiskomitee in seiner Begründung. Nur sechs Frauen erhielten bis dahin den Nobelpreis, und nur zwei von ihnen allein: die Physikerin Marie Curie und die Chemikerin Dorothy Crowfoot Hodgkin. In der Rubrik Medizin bekam Barbara McClintock den Preis sogar als erste Frau ungeteilt. Sie sei von der Entscheidung des Komitees überwältigt gewesen, erklärte die Preisträgerin. Einer Kollegin zufolge war ihr der ganze Rummel jedoch eher unangenehm.

Warum sie den Preis so spät erhalten habe, fragte man auf der Pressekonferenz am Nachmittag ihrer Nominierung. „Es dauerte so lange, weil niemand meine Erfahrung hatte“, vermutete McClintock. Ob es eine Rolle spielte, dass sie als Frau in einer Männerwelt forschte, blieb offen. Das Cold Spring Harbor-Labor auf Long Island, wo sie fast 50 Jahre arbeitete, empfand sie als idealen Ort: „Ich bin sicher, dass ich an einem anderen Ort für das, was ich tat, gefeuert worden wäre, (. . .) aber die Carnegie Institution sagte mir nie, dass ich es nicht tun sollte. Sie sagten nicht einmal, dass ich veröffentlichen sollte, als ich nicht veröffentlichte“, lobte McClintock ihre Arbeitgeber. Wer war diese bemerkenswerte Frau, die ihr Leben vollkommen in den Dienst der Wissenschaft stellte?

Bereits als Jugendliche zeigte Barbara McClintock einen ausgeprägten Wissensdurst. Auf der High School beschäftigte sie die Frage, wie sie mit ihrer „ausgefallenen Individualität umgehen sollte“: „Mir schien, dass ich wohl viel zu erdulden haben würde, wenn ich mich nicht den Normen entsprechend verhielte und bei den Leuten anecken würde, aber das wollte ich wohl in Kauf nehmen.“ So hielt sie es ihr Leben lang: „Ganz gleich, wie die Folgen aussehen würden, nie wich ich vom einmal eingeschlagenen Weg ab.“ McClintock studierte an der Cornell University in Ithaca/New York Zytologie und Genetik und wurde 1927 promoviert. Eine wichtige Entscheidung betraf ihr Verhältnis zu Männern: „Es gab einfach für mich keinen zwingenden Grund, mich persönlich an einen Mann zu binden (. . .) Und vor der Institution der Ehe stand ich völlig verständnislos  (. . .).“

1927 akzeptierten die meisten Biologen, dass Vererbung durch Gene stattfindet, die auf Chromosomen angeordnet sind. Bei der Fruchtfliege Drosophila hatte man bereits den Nachweis erbracht, dass bestimmte Gene gemeinsam vererbt werden, sogenannte Kopplungsgruppen. Diesen Nachweis wollte McClintock nun für den Mais erbringen. Doch das war leichter gesagt als getan, denn die eine Genetikergruppe arbeitete nur mit Mais, die andere nur mit Chromosomen. „Beide Bereiche kamen nie miteinander in Kontakt – sie arbeiteten sogar in völlig unterschiedlichen Labors“, schrieb McClintock. In einer Zeit, als der Begriff Zytogenetik noch nicht klar definiert war, wollte sie die beiden Gruppen zusammenführen.

Eigenen Angaben zufolge interessierte McClintock sich nie für eine Karriere. Ende der 1920er-Jahre arbeiteten Frauen in den Naturwissenschaften nicht wissenschaftlich, sondern als Lehrerinnen oder Laborantinnen, eine Karriereplanung war den Männern vorbehalten. Doch mit ihrer Eigenständigkeit und Unbeirrbarkeit verfolgte McClintock beharrlich ihren Weg. Auf die Frage, was sie besonders auszeichne, antwortete sie: „Man muss sich nur die Muße nehmen hinzuschauen, aber auch die Geduld besitzen, zu hören, was das ‚Material‘ zu sagen hat.“ Vor allem müsse man „ein Gespür für den Organismus“ entwickeln. Mit diesem Rüstzeug interpretierte sie ihre Beobachtungen am Mikroskop 30 Jahre, bevor die beobachteten Phänomene auf molekularer Ebene erklärt wurden. Auf ihre Detailgenauigkeit angesprochen, bemerkte sie einmal: „Also wenn ich eine Zelle betrachte, klettere ich in sie hinein und schau mich bloß einmal dort um.“ Dieses „Sichumschauen“ führte letztlich zur Entdeckung einer neuen Kategorie von Genen, deren Hauptmerkmal ihre Mobilität innerhalb des Genoms ist. Dabei fühlte McClintock sich keiner Schule verbunden. Wissenschaftlern, die meinten, sie stünden unmittelbar davor, das Rätsel des Genoms zu entschlüsseln, begegnete sie skeptisch. Das Gen war für sie ein Symbol: „Wir arbeiten mit einem ganzen Satz von Symbolen – in gleicher Weise wie ein Physiker (. . .).

1933 ging sie ohne genaue Kenntnis der politischen Verhältnisse mit einem Stipendium nach Deutschland. Curt Stern, mit dem sie zusammenarbeiten sollte, war bereits emigriert. Durch die Ereignisse „zu Tode geängstigt“, kehrte sie früher als geplant in die USA zurück. Nach einer Anstellung an der University of Missouri ging McClintock 1941 nach Cold Spring Harbor, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieb.

Das „zentrale Dogma“ (Francis Crick 1957) der Molekularbiologie besagt, dass die Übersetzung des genetischen Codes nur in einer Richtung verlaufen kann – von einer Nukleinsäure zur anderen Nukleinsäure oder von einer Nukleinsäure ins Protein, aber nicht von Protein zu Protein oder von einem Protein auf eine Nukleinsäure. Damit bliebe die Erbsubstanz von Ereignissen außerhalb des Genoms unberührt, Jean-Baptiste de Lamarcks Theorie von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften an die folgende Generation wäre unhaltbar.

Pigmentstreifen oder -flecken, die eine genetische Instabilität widerspiegeln, waren bereits bei anderen Organismen als veränderliche Gene, Buntscheckigkeit oder Mosaik beschrieben worden. McClintock beobachtete nun beim Mais Farbvarianten, etwa weiß, hellgrün und fahlgelb, also „Mutationen“, die innerhalb des Lebenszyklus einer einzelnen Pflanze instabil sind. Dabei bemerkte sie, dass jeder Keimling eine charakteristische Mutationsrate aufwies, die die Pflanze ihr ganzes Leben beibehält. Zwei Jahre später hatte sie eine Ahnung von der Transposition: „Es gab eine Komponente, die direkt neben einem Gen lag. Diese hatte, indem sie dissoziierte, auf ein Signal geantwortet, das wiederum von einem weiteren Element ausgesandt wurde.“ Dieses erste System in einer Reihe weiterer, von ihr entdeckter Kontrollmechanismen nannte sie das Ds-Ac-System (= Dissoziations-Locus-Aktivator-Locus). Dabei steht die Dissoziation, das heißt der Chromosomenbruch, unter der Kontrolle des Aktivator-Locus, der wiederum sich selbst kontrolliert. Weitere Untersuchungen ergaben einen Zusammenhang zwischen der Ac-Konzentration und der Mutationsrate: Je höher die Ac-Konzentration, desto geringer die Mutationsrate. McClintock sprach von „Zustands- oder Konformationsänderung“.

Im Herbst 1950 veröffentlichte sie eine kurze Mitteilung über die Transposition von Ds und Ac. Transposition bezeichnet einen Vorgang, bei dem ein Stück DNA (Transposon) an einer anderen Stelle desselben oder eines anderen DNA-Moleküls eingesetzt wird. Im Sommer 1951 stellte sie ihre Ergebnisse bei einem Symposium vor. Zu dieser Zeit war McClintock eine Autorität auf ihrem Gebiet, doch die Kollegen verstanden nicht, was sie sagen wollte. Zwei Jahre später publizierte sie einen ausführlichen Bericht in der Zeitschrift „Genetics“: „Induction of Instability of Selected Loci in Maize“. 1956 trug sie ihre Resultate erneut öffentlich vor und stieß auf ähnliche Ablehnung wie fünf Jahre zuvor. Warum das? Ihre Ergebnisse widersprachen der vorherrschenden Sicht der Genetiker. Denn wie soll man den Begriff des Gens als unveränderliche Struktur der Vererbung beibehalten, wenn Teile von Genen durch bestimmte Steuerungs- und Kontrollmechanismen ihre Struktur verändern?

Die klassische Genetik lehrte, dass Gene auf Chromosomen aufgereiht sind wie Perlen auf einer Schnur. Dieses „Perlschnurmodell“ kam in den 1950er-Jahren zunehmend ins Wanken. Nach den Experimenten von Oswald Avery, Colin MacLeod und Maclyn McCarthy lag nahe, dass die DNA und nicht Proteine, wie vorher angenommen, Träger der Erbinformation ist. 1953 fanden Francis Crick und James Watson die Doppelhelixstruktur der DNA – eine der bedeutenden Revolutionen der Wissenschaftsgeschichte. Doch auch mit der Entdeckung des genetischen Codes, das heißt der Verschlüsselung der Erbinformation durch eine bestimmte Sequenz von Nukleotidbasen, konnte man nicht erklären, warum das „Genprodukt“ je nach Position des Gens unterschiedlich ausfallen kann. McClintocks Arbeit über die Transposition postulierte dagegen räumlich unabhängige Effekte, weil Bestandteile von Genen nicht nur ihre Lage verändern, sondern in jeder neuen Position auch neue Funktionen ausführen.

1960 beschrieben Jaques Monod und François Jacob ihr Modell des „Operons“. Demnach wird die Proteinsynthese nicht nur durch das Strukturgen, welches das Protein kodiert, sondern durch zwei weitere Gene reguliert, die sie Operatorgen und Regulatorgen nannten. McClintock war begeistert – dieses Modell war ihren Annahmen sehr ähnlich. Doch ihre Kontrollelemente beim Mais fanden nach wie vor kein Gehör. Weitere Jahre vergingen, in denen sich immer mehr Hinweise auf genetische Mobilität ergaben. Forscher wie Peter Starlinger und Heinz Saedler stellten Zusammenhänge zwischen den neuen Erkenntnissen und McClintocks Arbeit her. 1980 zog McClintock dieses Fazit: „Unzweifelhaft ist das Genom einiger, wenn nicht sogar aller Organismen ziemlich instabil und kann sich innerhalb kürzester Zeit drastisch verändern. Das führt möglicherweise zu neuen Genomstrukturen wie auch zu modifizierten Kontrollen darüber, wann und wie das Gen exprimiert werden soll (. . .).“ Genetische Information ist einerseits stabil; doch zugleich handelt es sich dabei um ein vielschichtiges System mit komplexen Rückkopplungsmechanismen.

Dabei war McClintock davon überzeugt, dass die Vernunft nicht ausreicht, um die Vielfalt des Lebens angemessen zu beschreiben. Das naturwissenschaftliche Wissen ähnelt ihr zufolge „einem Kinderspiel. Man bekommt unzählige Korrelationen, die uns jedoch der Wahrheit kein bisschen näherbringen (. . .). Die Wirklichkeit ist viel, viel wunderbarer, als die Naturwissenschaft und ihre Methoden uns tatsächlich wahrnehmen lassen.“

Am 2. September 1992 starb Barbara McClintock an einer Grippe. Bis kurz vor ihrem Tod arbeitete sie an sieben Tagen der Woche im Labor. In der Pressekonferenz zum Nobelpreis sagte sie: „Ich habe ein sehr, sehr befriedigendes und interessantes Leben gehabt. Ich konnte es am Morgen nicht abwarten, ins Labor zu gehen, und ich hasste es, einfach zu schlafen.“

Literatur

Fox Keller E: Barbara McClintock. Die Entdeckerin der springenden Gene. Basel: Birkhäuser. Verlag 1995.

Entnommen aus MTA Dialog 12/2018

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