Archibald Cochrane (1909–1988)

Vater der evidenzbasierten Medizin
Christof Goddemeier
Archibald Cochrane
Archibald Cochrane © Open Access, CC BY-NC 3.0
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1972 veröffentlichte der britische Arzt und Epidemiologe Archibald Cochrane sein Buch „Effectiveness and Efficiency – Random Reflections on Health Services“. Darin beklagte er das Fehlen zuverlässiger Evidenz vieler allgemein akzeptierter ärztlicher Maßnahmen.

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Wahrscheinlichkeit, dass eine ärztliche Maßnahme dem Patienten nutzte, größer als 50 Prozent. Demnach kam es einer Art Glücksspiel gleich, sich im Krankheitsfall ärztliche Hilfe zu suchen.Mit der Anweisung „Primum nil nocere – vor allem nicht schaden“, die auf den hippokratischen Eid zurückgeht, war solches ärztliches Handeln nicht vereinbar. 1972 veröffentlichte der britische Arzt und Epidemiologe Archibald Cochrane sein Buch „Effectiveness and Efficiency – Random Reflections on Health Services“. Darin beklagte er das Fehlen zuverlässiger Evidenz vieler allgemein akzeptierter ärztlicher Maßnahmen und forderte die Überprüfung medizinischen Wissens durch randomisierte kontrollierte Studien (RCT). Damit gilt er als Vater der sogenannten evidenzbasierten Medizin.

Um begriffliche Verwirrung zu vermeiden, muss man sich klarmachen, dass „evident“ im Deutschen bedeutet, dass etwas so unmittelbar einleuchtet, dass es keines Beweises bedarf. Das englische „Evidence“ bezeichnet im Gegensatz dazu den Beweis mit wissenschaftlichen Methoden. Das Gegenteil von „evidence-based“ ist demnach das unreflektiert, ohne wissenschaftlichen Beweis Einleuchtende.

In der Geschichte der Medizin gibt es Vorläufer kontrollierter Studien. So war Friedrich II. (1192–1250), Kaiser und König von Sizilien und Jerusalem, daran interessiert, wie die Verdauung funktioniert. Dazu ließ er zwei Ritter die gleiche Mahlzeit verspeisen. Danach schickte er den einen auf die Jagd und den andern ins Bett. Das grausame Finale: Beide Ritter wurden getötet, und der Kaiser inspizierte ihren Verdauungstrakt. Bei dem Ritter, der nach dem Essen geschlafen hatte, war die Verdauung weiter fortgeschritten.

Mitte des 17. Jahrhunderts war der englische Arzt Thomas Sydenham überzeugt, dass die Ankunft eines Hanswurstes in einer Stadt der Gesundheit ihrer Bewohner zuträglicher sei als 20 mit Medikamenten beladene Esel. Etwa zur gleichen Zeit fragte der flämische Arzt und Philosoph Jan Helmont, ob der Aderlass tatsächlich von Nutzen war, und plante eine Untersuchung, die die Kriterien einer seriösen klinischen Studie erfüllt hätte: große Teilnehmerzahl, Randomisierung, das heißt die Gruppenzuteilung der Teilnehmer nach dem Prinzip des Zufalls, sowie statistische Analyse. Mehrere Hundert Menschen sollten nach Losentscheid einer von zwei Gruppen zugeteilt werden. Die eine blieb ohne Aderlass, bei der anderen Gruppe sollten Ärzte so viel Blut entnehmen, wie sie für richtig hielten. Maßstab für die Wirksamkeit des Aderlasses sollte die Anzahl der Todesfälle sein. Doch das Experiment wurde nie durchgeführt – die Gründe dafür sind nicht bekannt.

Als der Pfarrer Johann Peter Süßmilch 1741 sein Hauptwerk veröffentlichte, gab es den Begriff „Statistik“ noch nicht. In großem Umfang sammelte er demografisches und gesundheitsstatistisches Material und wertete es aus. Ärzte fanden in seinem Buch viele nützliche Daten über Morbidität, Sterblichkeit, Todesursachen, Epidemien sowie eine Klassifikation von Krankheiten in lateinischer Sprache, die internationale Vergleiche ermöglichte. Der französische Arzt Pierre Louis führte Mitte des 19. Jahrhunderts die statistische Analyse zur Überprüfung der Wirksamkeit medizinischer Behandlung ein. Doch sein Nachweis, dass der Aderlass als Therapie nutzlos ist, änderte bis auf Weiteres nichts an der ärztlichen Praxis.

1919 erschien Eugen Bleulers Schrift „Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung“. Autistisch nannte der Schweizer Psychiater ein Denken, „(. . .) das auf eine Kontrolle der Resultate an der Wirklichkeit und eine logische Kritik verzichtet (. . .)“. Ihm zufolge wussten Ärzte zu wenig darüber, wie Krankheiten ohne ihr Eingreifen verliefen. Und wenn sie es wussten, handelten sie nicht danach. Für Bleuler stand fest: Der Schaden durch Unterlassung ist viel geringer als der Schaden durch übertriebenes Handeln. Mit der „Udenotherapie“ erfand er ein neues Wort für Nichtstun und Abwarten.

Archibald Cochranes medizinisches Vorbild war der schottische Arzt James Lind (1716–1794). In der ersten kontrollierten Studie der Medizingeschichte wies Lind als Bordarzt nach, dass Vitamin C gegen Skorbut wirksam ist. Cochrane wurde im schottischen Galashiels geboren. Sein Studium am King’s College in Cambridge schloss er mit einem Master in Science und einem Master of Art ab. Ab 1933 beschäftigte er sich mit der Psychoanalyse, unterzog sich selbst einer Analyse bei Theodor Reik, einem Schüler Sigmund Freuds. Seine medizinische Ausbildung unterbrach er, um als Sanitäter am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Ab 1938 arbeitete er am West London Hospital. Während des Zweiten Weltkriegs geriet er auf Kreta in deutsche Gefangenschaft. Im Vorwort seines Buches „Effectiveness and Efficiency“ beklagt Coch-rane seinen Mangel an praktischer Erfahrung in der Krankenbehandlung. Nahezu seine gesamte klinische Erfahrung habe er während seiner vierjährigen Kriegsgefangenschaft erworben.

Im Durchgangslager in Saloniki war Cochrane als leitender Sanitätsarzt für 20.000 Gefangene zuständig. Jeder erhielt am Tag 600 Kalorien, und alle litten an Durchfall. Es gab schwere Epidemien von Typhus, Diphtherie, Gelbsucht und Phlebotomusfieber (engl. sandfly fever). Zur Behandlung dienten „ein baufälliges Krankenhaus, etwas Aspirin, Antacida und Hautdesinfektionsmittel“. „Ich erwartete allein Hunderte Todesfälle durch das Fehlen einer spezifischen Therapie der Diphtherie“, schrieb Cochrane. Doch tatsächlich starben nur vier Menschen, drei davon durch Schussverletzungen. Cochrane zufolge war dieses exzellente Ergebnis keineswegs auf die Behandlung oder seine ärztliche Kompetenz zurückzuführen: „Es belegte eindeutig, wie unwichtig die Behandlung im Vergleich mit der menschlichen Fähigkeit zur Selbstheilung ist.“ Als Cochrane als einziger Arzt zuständig war, bat er den „German Stabsarzt“ um Verstärkung. Dessen Antwort: „Nein! Ärzte sind überflüssig.“ Cochrane fragte sich, ob der Mann klug oder grausam war, und gab ihm recht.

Im Lager Elsterhorst an der Elbe hatte er mit Tuberkulosepatienten zu tun. Ausgestattet mit allen Freiheiten in der Behandlung, hatte er nach eigenen Angaben keine Ahnung, was er tun sollte: „Gern hätte ich meine Freiheit für ein bisschen Wissen aufgegeben. Ich hatte nie von ‚randomisierten kontrollierten Studien‘ gehört, aber ich wusste, dass es keinen Beleg dafür gab, dass irgendetwas von dem, das wir gegen die Tuberkulose unternahmen, eine Wirkung hatte, und ich befürchtete, die Leben einiger meiner Freunde durch unnötige Maßnahmen zu verkürzen.“

Cochrane führte den Begriff der Wirksamkeit ein und bezeichnete damit die Eigenschaft einer medizinischen Maßnahme, den natürlichen Verlauf einer Krankheit zum Besseren zu wenden. Unter Effizienz verstand er die Wirtschaftlichkeit einer medizinischen Maßnahme, das Verhältnis von Nutzen und Kosten. Denn stets lag ihm am Herzen, dass jeder einen Zugang zu wirksamer Behandlung hatte, und nicht nur einige Wohlhabende. Als Student hatte Cochrane bei einer Veranstaltung diesen Slogan auf seine Fahne geschrieben: „Jede wirksame Behandlung muss kostenlos sein.“

1993 gründete der britische Arzt Sir Iain Chalmers die nach Archibald Cochrane benannte Cochrane Collaboration, ein weltweites Netz aus Ärzten, Wissenschaftlern, Angehörigen der Gesundheitsberufe und Patienten. Ihr Ziel ist es, ohne kommerzielle Förderung und Interessenkonflikte systematische Reviews (= Übersichtsarbeiten) zur Bewertung medizinischer Behandlungen zu verfassen und diese auf dem aktuellen Stand zu halten.

In der „Hierarchie der Beweiskraft“ (T. Greenhalgh) am höchsten rangieren systematische Reviews und Metaanalysen. Systematisch ist ein Review dann, wenn es Ziele, Materialien und Methoden ausdrücklich erwähnt, und wenn es mit einer reproduzierbaren Methodik durchgeführt wird. Dem gegenüber nennt Greenhalgh ein Review „narrativ“, wenn die Primärstudien nicht nach diesen Kriterien ausgewählt und analysiert werden. So verwendete der Biochemiker Linus Pauling selektive Zitate der medizinischen Literatur, um seine These zu belegen, dass man mit Vitamin C länger lebt und sich gesünder fühlt. Demgegenüber ergab eine systematische Durchsicht der Literatur lediglich einzelne Studien, die Paulings These untermauerten – viel mehr Studien konnten indes keinen Nutzen von Vitamin C identifizieren (Paul Knipschild 1995). Eine Metaanalyse ist eine statistische Synthese der numerischen Ergebnisse verschiedener Studien, die alle die gleiche Frage untersucht haben. Hier zeigt sich häufig, dass Studien, die keinen signifikanten Unterschied zwischen einer Therapie- und einer Kontrollgruppe finden, zu einem Ergebnis beitragen, das statistisch signifikant ist. Ein bekanntes Beispiel hat die Cochrane Collaboration in ihr Logo aufgenommen – die Metaanalyse von sieben Studien zur Wirkung einer Steroidbehandlung von Schwangeren, die eine Frühgeburt erwarteten. Nur zwei der sieben Studien hatten einen signifikanten Nutzen in Bezug auf das Überleben der Neugeborenen gezeigt. Die verbesserte Genauigkeit der statistischen Synthese belegte jedoch eindeutig einen Nutzen der medizinischen Intervention.

Randomisiert kontrollierte Studien ermöglichen die gründlichste und verzerrungs(= bias)freieste Evaluation einer Variable in einer definierten Patientengruppe. Ihr Nachteil: Sie sind teuer und zeitaufwendig. Deshalb versucht man, Zeit und Kosten zu sparen, indem man etwa die Patientenzahl verkleinert oder den Zeitraum verkürzt. Auch verwendet man anstelle von klinisch festgelegten Studienendpunkten sogenannte Surrogatendpunkte. Darunter versteht man eine „Variable, die relativ einfach zu messen ist und die das Ergebnis eines toxischen Reizes oder eines therapeutischen Eingriffs vorhersagt, ohne selbst ein direkter Maßstab für den klinischen Nutzen oder Schaden zu sein“. Beispiele sind pharmakokinetische Messungen des aktiven Metaboliten eines Medikamentes im Blut und die Konzentrationsveränderungen sogenannter Krankheitsmarker wie des prostataspezifischen Antigens (PSA). Surrogatendpunkte haben jedoch verschiedene Nachteile – vor allem beantworten sie noch nicht die wesentlichen Fragen einer Studie.

In der Cochrane Collaboration erstellen inzwischen rund 37.000 Menschen in 130 Ländern verlässliche Informationen zu Gesundheit und Krankheit. In Deutschland wurde bei der Umsetzung des GKV-Modernisierungsgesetzes 2004 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gegründet. Schwerpunkt seiner Arbeit sind die evidenzbasierte Bewertung medizinischer Maßnahmen und von Leitlinien. Die Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, gegründet bereits 1904, konzentriert sich seit Mitte der 90er-Jahre auf die Themen Qualitätssicherung in der Medizin und evidenzbasierte Medizin. Als Herausgeber firmieren neben anderen das Deutsche Cochrane Zentrum und das IQWiG.

Zahlreiche Publikationen widmen sich schließlich dem Konflikt zwischen ärztlicher Freiheit und den Herausforderungen durch evidenzbasierte Medizin und begrenzte finanzielle Mittel. Dabei wird deutlich, dass ärztliche Freiheit als „bedingte, (. . .) funktionale Freiheit“ nie eine Freiheit um ihrer selbst willen ist, sondern dazu dient zu helfen. So verstanden ist evidenzbasierte Medizin keine „Kochbuchmedizin“. Denn neben der Bewertung der verfügbaren Evidenz verbleibt die Aufgabe der Integration, die immer die Besonderheiten des einzelnen Patienten berücksichtigen muss.

Literatur

1. Cochrane A: Effectiveness and Efficiency – Random Reflections on Health Services. London: Nuffield Provincial Hospitals Trust, 2nd edition 1989.
2. Greenhalgh T: Einführung in die Evidence-based Medicine. Bern: Verlag Hans Huber 2000.
3. Wiesing U, Marckmann G: Freiheit und Ethos des Arztes. Freiburg: Verlag Karl Alber 2009.
4. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. Elsevier-Verlag.

Entnommen aus MTA Dialog 3/2019

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